Kapitalismus mit rundlichem Antlitz

Investmentbanken und Hedgefonds agieren wieder wie vor der Krise, Großbanken manipulieren die Zinsen, die Manager lassen sich Traumgehälter und Phantasieboni auszahlen, Milliardenhilfen für Griechenland und andere notleidende Staaten gehen zu 80 Prozent zurück an die Banken. Das Primat der Politik steht nur noch auf dem Papier, in Wirklichkeit bestimmt die Finanzindustrie den Takt der Politik.

Vor diesem Hintergrund ist es erschütternd, wie schnell die Vorschläge von Sigmar Gabriel zur Bankenregulierung als “Populismus” (Wolfgang Schäuble) abgebürstet wurden. Denn der SPD-Chef hat recht, wenn er die Frage der Kontrolle der Finanzindustrie zur Überlebensfrage der Demokratie erklärt. Deshalb ist das Thema Finanzmarktregulierung auch das richtige Wahlkampfthema. (Sprengsatz.de)

Es geht um das Thesenpapier des Sigmar Gabriel. Die Speerspitze der revolutionären Proletarierbewegung „SPD“ hat sich in Form ihres Parteichefs zur Eurokrise positioniert und präsentiert einen klientelgerechten, weil leicht verständlichen und zutiefst populistischen, sowie der Parteilinie treu bleibenden, weil unwirksamen Lösungsansatz: den Banken das Zocken verbieten.

Weder Gabriel noch Spreng werden der Krisenproblematik hier im Ansatz gerecht. Was ist denn mit der SPD Politik unter Schröder? Und was ist vor allem mit der rot-grünen Beschäftigungspolitik dieser Tage? Wie verhält es sich denn mit der bundesdeutschen Nettolohnentwicklung und der Wirtschaftskrise?
Statt also die eigene Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung als eine der bedeutendsten Ursachen für die Krise zu benennen oder gar dem Problem mit vernünftiger Kapitalismuskritik beizukommen, wird tumb auf die armen Bankvorstände eingedroschen.

Da sitzen ein paar Vorzeigekapitalisten in den Chefetagen großer Banken und verhalten sich so, wie es das System möchte und Siggi fordert mehr Anstand und Regulierung – ganz im Sinne des „kleinen Mannes“, versteht sich. Was fordert Gabriel denn da? Anständige Kapitalisten? Kapitalismus mit menschlichem Antlitz? Mir wird schlecht!

Sprengs Text baut auf der selben ekelhaften Verblendungsrhetorik auf, wie Gabriels Thesen. Was soll das sein? Eine Wahlempfehlung für die SPD? Hier wird eine Hoffnung in die offenbar leblose Opposition gesteckt, die wirklich rein gar nichts tut, was sie als Opposition erkennbar werden ließe. Sprengs Text trieft vor der Angst dem Wahlvolk sei das Gespenst der „Alternativlosigkeit“ schon so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass Schwarz(-Gelb?) tatsächlich auch die nächste Wahl gewinnen könnte.

Die Regierung macht in der Krise tatsächlich keinen guten Job und die deutsche Austeritätspolitik wird von nahezu allen Seiten nicht zu unrecht kritisiert. Nur hat Schäuble als Regierungsvertreter mit einem Recht: Gabriels Thesenpapier ist blanker Populismus, wer etwas anderes behauptet hofiert diesen. Jeder Satz des Papiers ist als Bankerschelte zu verstehen. Als wären Finanzvorstände die Blutegel, die ein ansonsten funktionierendes System auslaugten. Hier wird mit den Ängsten und Vorurteilen der Wähler_innen gespielt. Das Wesen der Krise bleibt dabei unerwähnt und von den vorgeschlagenen Maßnahmen unberührt. Die Wähler_innen bekommen nicht mehr, sondern andere Antworten. Letztlich werden sie dabei aber nicht besser verarscht, als unter der jetzigen Regierung.

Es ist eine typisch unbeholfene, sozialdemokratische Kapitalismuskritik, wie man sie kennt. Da wirft sich das Oppositionswa(h)lross zum Wahlkampf auf den Beckenrand, winkt mit seinen falschen Thesen und … stellt fest, es kommt nicht mehr ins Wasser. Der Dompteur versucht dem gestrandeten Ungetüm mit ein wenig Wahlkampfhilfe beizukommen, doch das Wa(h)lross ist zu fett. Rein metaphorisch gesprochen, versteht sich.

Die Produktion von Delinquenz am Beispiel von Fußballfans

Angesichts der jüngsten Sicherheitskonferenz in Berlin scheint es mir angebracht eine Ausarbeitung zur Produktion von Delinquenz bei Fußballfans nach Foucaults Überwachen und Strafen zu veröffentlichen. In der Diskussion um das vermeintliche Gewaltproblem des Fußballs und zu sanktionierendes Fehlverhalten wird sich leider stets innerhalb der selben Paradigmen bewegt. Grundsätzlich heißt es stets, natürlich sei dies oder jenes zumindest in der gegebenen Situation falsch, was mir persönlich etwas zu einfach gedacht ist. Mit der vorliegenden Arbeit soll der Diskurs um eine weitere Perspektive ergänzt und hoffentlich befruchtet werden. Auch wenn die Länge die eines gewöhnlichen Blogposts etwas übersteigt hoffe ich, dass sich der Beitrag gut lesen lässt und die Länge nicht all zu abschreckend wirkt.

1. Einleitung

2. Analyse von Machtstrukturen anhand „Überwachen und Strafen“
2.1. Das gegen die Gesellschaft gerichtete Verbrechen
2.2. Umkehr der Individualisierungsobjekte

3. Maßnahmen gegenüber Fußballfans unter Bezugnahme auf Foucault
3.1. Räumliche Individualisierung – Das Verschwinden der Stehplätze
3.2. Anonymität der Macht
3.2.1. Eine Maske der Macht: Die „Szenekundigen Beamten“
3.2.2. Macht/Wissen durch Fankategorien und die Datei Gewalttäter Sport
3.3. Freiheitsberaubung durch Ausschluss: Stadionverbote als subjektives Gefängnis

4. Die Produktion von Delinquenz und das Schaffen eines Milieus

5. Zusammenfassung / Fazit

1. Einleitung

Michel Foucault hat in seinem wohl bekanntesten Werk „Überwachen und Strafen“ die These aufgestellt, dass das Gefängnissystem Delinquenz produziert und nicht etwa dazu dient Straftaten zu verhindern. Diese These besagt, dass das Gefängnis sich deshalb durchgesetzt hat, weil es als Institution den Mechanismen der Disziplinargesellschaft adäquat ist. Diese Arbeit untersucht, ob auch im staatlichen Umgang mit Fußballfans Delinquenz im Sinne Foucaults produziert wird und wie dies geschieht.

Hierzu ist es notwendig zunächst den von Foucault aufgezeigten Wandel der Strafpraktiken, der sich zwischen Mitte des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen hat zu skizzieren: Gesetzesbrüche werden nicht mehr als gegen Regent_innen gerichtet wahrgenommen, sondern vielmehr als etwas gegen die gesamte Gesellschaft gerichtetes (Abschnitt 2.1.). Darzustellen ist dies um zu überprüfen, ob die Mechanismen der Disziplinarmacht ungebrochen auch im Jahre 2012 im gesellschaftlichen Feld des Fußballs wirken. In Abschnitt 2.2. wird auf eine aus dem zuvor aufgezeigten Wandel resultierende Umkehr der Individualisierungsprozesse eingegangen. Veranlasste die Herrschaftsstruktur des Ancien Règime die Individualisierungstechniken auf die wenigen Herrschenden möglichst ausgeprägt anzuwenden, bedingte der Wandel der Herrschaftsverhältnisse hingegen die Möglichkeit der Individualisierung im stärksten Maße auf einzelne in der breiten Massengesellschaft anzuwenden, um dadurch jede Abweichung von der Norm kenntlich zu machen. Die Darstellung der Individualisierungspraktiken ist notwendig um im Folgenden die einzelnen Mechanismen der Machtstrukturen im Fußballkontext zu erläutern, finden sich doch auch hier die zuvor skizzierten Individualisierungsmechanismen wieder (Abschnitt 2.2.). Mittel dazu ist die Parzellierung des Raumes und der Mechanismus des Panoptismus worauf in Abschnitt 3.1. eingegangen wird. Dabei wird auch noch einmal deutlich, dass die von Foucault in „Überwachen und Strafen“ behauptete Anonymität und Eigendynamik der Macht und die Individualisierung bestimmter Mitglieder der Gesellschaft tatsächlich einander bedingen, was im Abschnitt 3.2. anhand der „Szenekundigen Beamtinnen und Beamten“ (3.2.1.), der Fankategorisierungen und der „Datei Gewalttäter Sport“ (3.2.2.) genauer zu beleuchten versucht wird.

In Abschnitt 3.3. wird in diesem Zusammenhang auf direkte Sanktionen, wie Stadionverbote und Meldeauflagen eingegangen. Hier wird argumentativ die in Abschnitt 4. aufgezeigte Funktionsweise der Produktion von Delinquenz vorbereitet. Diese bezieht sich zwar nicht ausschließlich auf die in 3.3 beschriebenen Sanktionen, sondern umfasst alle in Abschnitt 3. beschriebenen Maßnahmen und geht darüber hinaus mit dem Kreieren eines Milieus einher.

Im Zusammenhang mit der Delinquenz wird auch auf die These Foucaults eingegangen, Macht sei produktiv.

In dieser Arbeit werden zentrale Thesen Foucaults aus „Überwachen uns Strafen“ auf verschiedene Primärquellen, wie Richtlinien von Fußballverbänden, Stellungnahmen von Polizeivertreter_innen und Medienberichte über Fußballfans, sowie Sekundärliteratur zu Fußballfans angewendet. Dabei wird bewusst kein Bezug auf den aktuellen Forschungsstand zu „Überwachen und Strafen“ genommen, sondern lediglich das Originalwerk Foucaults behandelt. Ein Bezug auf jüngere Forschungsliteratur, wie beispielsweise zum Konzept der, den Gehalt von „Überwachen und Strafen“ teils ergänzende, teils aber auch konterkarierenden, „Gouvernementalität“, das Foucault in den posthum veröffentlichten Vorlesungen entfaltete, sprengte den Rahmen dieser Arbeit. Darüber hinaus gibt keine Forschungsarbeit, die „Überwachen und Strafen“ auf den Kontext von Fußballfans anwendet, womit diese Arbeit gewissermaßen „Pioniercharakter“ bekommt.

Ferner beschränkt sich diese Arbeit auf den Kontext von Fußballfans in Deutschland. Mit Sicherheit ließen sich große Teile der, in dieser Arbeit aufgezeigten, Mechanismen auch auf Fußballfanszenen in anderen (zumindest europäischen) Ländern übertragen, jedoch sprengte auch das den Rahmen dieser Arbeit.

2. Analyse von Machtstrukturen anhand „Überwachen und Strafen“

2.1. Das gegen die Gesellschaft gerichtete Verbrechen

Foucault beginnt seine Ausführungen in „Überwachen und Strafen“ mit einer Gegenüberstellung zweier Strafpraktiken. Zum einen ist das die Hinrichtung Damiens in Gestalt der Leibesmarter im Jahr 1757 und zum anderen Auszüge aus einem Reglement für ein Gefängnis aus dem Jahr 1837[1]. Zwischen der Vierteilung Damiens und der minutiösen Zeit- und Tätigkeitsplanung der Gefangenen liegt grob ein drei viertel Jahrhundert. In dieser Zeit ist in die Strafpraktiken nicht nur eine vermeintliche Form der Menschlichkeit (de facto ein Mehr an Macht) eingekehrt, sie hat sich in ihrem Wesen zu einem Disziplinarapparat verändert. Für den ersten Fall gilt: „Das Verbrechen greift über sein unmittelbares Opfer den Souverän an; es greift ihn persönlich an, da das Gesetz als Wille des Souveräns gilt; es greift ihn physisch an, da die Kraft des Gesetzes die Kraft des Fürsten ist.“[2] Womit die Marter als Strafpraktik eine rechtlich-politische Funktion bekommt, soll sie doch dazu dienen die verletzte Souveränität des/der Regent_in wieder herzustellen und die maximale Schwere des Verbrechens wie in einer Analogie abbilden.  Im Falle der humanisierten Strafpraktiken der Neuzeit

„wird der Verbrecher als Feind aller bezeichnet, den zu verfolgen alle ein Interesse haben, er fällt aus dem [Gesellschafts-, der Verf.]Vertrag heraus, disqualifiziert sich als Bürger und wird zu einem, der ein Stück Natur in sich trägt. Er erscheint als Ruchloser, Monster, vielleicht als Wahnsinniger, als Kranker und bald als ‚Anormaler’.“[3]

Aus der Auffassung, dass sich ein Verbrechen nicht etwa gegen die Regierung oder das Parlament, gegen die Gerichte oder die Justiz richtet, sondern gegen die gesamte Gesellschaft als Souverän des (Rechts-)Staates, ergibt sich ein normativer Charakter des Strafvollzugs. Nur wer die Regeln, welche sich die Gesellschaft selbst auferlegt hat, befolgt, ist vollwertiger Teil der Gesellschaft, wer hingegen Gesetze bricht verwirkt seine Bürgerrechte (zumindest in Teilen). Ziel der Gesellschaft kann es jedoch nicht sein, seine Mitglieder zu verlieren, so ergibt sich – auch durch den normativen Charakter – eine Disziplinarfunktion der Strafpraktiken, schließlich sollen die verloren gegangenen Mitglieder vorgeblich wieder ihren Weg in die Gesellschaft finden, während jedoch de facto delinquente Milieus kreiert werden.

2.2. Umkehr der Individualisierungsobjekte

Aus diesem Wandel der Strafpraktiken resultiert eine Umkehr der zu individualisierenden Subjekte in der Gesellschaft.

„In einem Disziplinarregime […] ist die Individualisierung „absteigend“: je anonymer und funktioneller die Macht wird, um so mehr werden die dieser Macht Unterworfenen individualisiert: und zwar weniger durch Zeremonien als durch Überwachungen; weniger durch Erinnerungsberichte als durch Beobachtungen; nicht durch Genealogien, die auf Ahnen verweisen, sondern durch vergleichende Messungen, die sich auf die „Norm“ beziehen; weniger durch außerordentliche Taten als durch „Abstände“. In einem Disziplinarsystem wird das Kind mehr individualisiert als der Erwachsene, der Kranke mehr als der Gesunde, der Wahnsinnige und der Delinquent mehr als der Normale. Es sind jedenfalls immer die Ersteren, auf die unsere Zivilisation alle Individualisierungsmechanismen ansetzt; und wenn man den gesunden, normalen, gesetzestreuen Erwachsenen individualisieren will, so befragt man ihn immer danach, was er noch vom Kind in sich hat, welcher geheime Irrsinn in ihm steckt, welches tiefe Verbrechen er eigentlich begehen wollte. Alle Psychologien, -graphien, -metrien, -analysen, -hygienen, -techniken und -therapien gehen von dieser historischen Wende der Individualisierungsprozeduren aus.“[4]

Im Umgang mit Fußballfans lassen sich diese Individualisierungsprozeduren gut nachvollziehen. Gerade in der großen anonymen Masse, welche die Fans im Stadion und auf ihren Reisen zu den Spielen darstellen scheint ein Zerlegen dieser Masse in ihre einzelnen Bestandteile, ihre Mitglieder, das vorrangigste aller Ziele zu sein. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Fangruppierungen und -strukturen gelegt, die durch abweichendes Verhalten auffallen. Die junge Familie, als Stereotyp der Normalität, steht demnach weniger im Fokus als die Gruppe Ultras, die zwar in der Regel eine Minderheit im Stadion darstellt, durch ihr Auftreten und ihr Selbstverständnis jedoch einen großen Wirkradius erzeugt. Diese Fans rücken in das Interesse der individualisierenden Macht; sie gilt es in ihrer Struktur zu zerlegen, ihre Aktionsarten und Organisationsformen zu dechiffrieren und sie letzten Endes greifbar zu machen, um im Zuge dessen Rädelsführer_innen, Gewalttäter_innen, etc. herauszustellen. Jedem von der Norm abweichenden Fußballfan wird demnach eine eigene Akte zuteil.

Die gängige Literatur betrachtet Fußballfans im Spannungsfeld zwischen Polizei und Verbänden. Dabei sind die einzelnen Akteure nicht als gleichberechtigte, einander gegenüberstehende Konfliktparteien zu betrachten, deren einzelne Handlungen dabei aber mitunter als Reaktionen auf die Handlungen einer jeweils anderen Gruppe gedeutet und erklärt werden können und müssen. Wichtig ist es hingegen, die Machtbeziehungen, wie sie Foucault in „Überwachen und Strafen“ entwickelt auf diesen Gegenstandsbereich anzuwenden. Die Polizei ist in diesem Zusammenhang das ausführende Subjekt der Macht, dem gegenüber das individualisierte Individuum „Fußballfan“ steht. In dieser Arbeit sollen Fußballfans, Polizei und Verbände im Sinne der Mikrophysik der Macht betrachtet werden, Was bedeutet, dass Macht kein Besitz eines Einzelnen oder einer bestimmten Klasse oder Gruppe ist. Vielmehr wirkt sie in Beziehungen. Dazu ist es nötig zu beleuchten, wie die Individualisierung im Kontext der Lebenswelten von Fußballfans aussieht und sich in Relation zu den die Machtstrukturen Ausagierenden darstellt. Dies soll im Folgenden geschehen.

3. Maßnahmen gegenüber Fußballfans unter Bezugnahme auf Foucault

3.1. Räumliche Individualisierung – Das Verschwinden der Stehplätze

Im Kontext der Individualisierung nimmt die Überwachung eine zentrale Rolle ein. Ein dichtes Netz der Polizei, die Kontrolle innerhalb der Institutionen, aber auch die gesellschaftliche Kontrolle jedes einzelnen gegenüber sich selbst und allen anderen forcieren die Einhaltung der Norm. Foucault geht im Mittelteil von Überwachen und Strafen auf die normierenden Funktionsweisen der Disziplinen ein.[5] Die Disziplinarmacht entfaltet erst durch die Kontrolle und die dem Fehlverhalten folgende Sanktion seine tatsächliche Wirkung. Um diese Strategie tatsächlich durchsetzbar zu gestalten, funktioniert sie sowohl auf einer räumlichen als auch auf einer zeitlichen Achse. Die räumliche Komponente findet sich in diversen architektonischen Ausgestaltungen. Diese beziehen sich auf städtebauliche Aspekte in der Makroperspektive und die Architekturen der Institutionen in der Mikroperspektive. Stets dient die Parzellierung des Raumes der Einteilung der Individuen in diesen und damit ihrer Zuordenbarkeit und letzten Endes ihrer Kontrolle.

Die Überwachung findet dabei seine höchste Form im Panoptismus, jenem dem Panopticon Benthams entlehntem Mechanismus, welcher die perfekte Überwachung wirklich macht. Das Panopticon ist die architektonische Utopie einer Institution, in der die Überwachung bzw. Kontrolle von Individuen gefordert ist. Ein Wachturm im Zentrum und diesen ringförmig umgebende und sowohl nach außen als auch nach innen befensterte oder vergitterte Zellenblöcke sind für dieses Modell charakteristisch. Die Insass_innen (ganz gleich ob nun Gefängnis, Krankenhaus, Schule, etc.) in ihren Zellen sind ihrerseits isoliert, können nicht miteinander kommunizieren oder interagieren, sie nehmen einander nicht wahr, wohl aber sind sie sich gewahr, dass sie jederzeit von dem/der Wächter_in im Turme im Blick gehalten werden können. Foucault konstatiert dazu:

„Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen ohne Unterlaß zu sehen und zugleich zu erkennen. Das Prinzip des Kerkers wird umgekehrt, genauer gesagt: von seinen drei Funktionen – einsperren, verdunkeln und verbergen – wird nur die erste aufrechterhalten, die beiden anderen fallen weg. Das volle Licht und der Blick des Aufsehers erfassen besser als das Dunkel, das auch schützte. Die Sichtbarkeit ist eine Falle.“[6]

Ferner hält er fest:

„Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert. […] Folglich hat es wenig Bedeutung, wer die Macht ausübt. Beinahe jedes beliebige Individuum kann die Maschine in Gang setzten: anstelle des Direktors auch seine Familie […]“[7]

Daraus ergibt sich eine Internalisierung der Macht. Es ist unerheblich wer überwacht oder ob überhaupt überwacht wird. Die reine Möglichkeit überwacht zu werden, zwingt die Individuen zur Anpassung ihres Verhaltens an die Norm.

Für Foucault ist Benthams Panopticon lediglich das technische Modell eines Disziplinar- bzw. Machtmechanismus, welcher den gesamten Gesellschaftskörper durchzieht. „Der Panoptismus ist das allgemeine Prinzip einer neuen ‚politischen Anatomie’, die es nicht mit dem Verhältnis der Souveränität, sondern mit den Beziehungen der Disziplin zu tun hat.“[8]

Im Gegensatz zu den von Foucault zitierten Zeiträumen generieren sich die normativen Grundsätze der Gesellschaft heutzutage vordergründig aus der Verwertbarkeit am Markt. Diese Verwertbarkeit betrifft nahezu alle gesellschaftlichen Felder und damit auch den Profifußball. Mit der Kommerzialisierung des Fußballs geht auch eine infrastrukturelle Veränderung einher. Gerade Welt- oder Europameisterschaften dienen hierbei als Katalysator. So wurden in Deutschland  zur Vorbereitung zur Weltmeisterschaft im Jahr 2006 diverse Fußballstadien modernisiert oder neu gebaut. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) und der Deutsche Fußballbund (DFB) haben im Stadionhandbuch „alle rechtlichen Grundlagen und Anforderungen, die für den Bau und die Erhaltung eines Stadions relevant sind“[9] zusammengefasst.

Foucault zitiert in Überwachen und Strafen Nicolaus Heinrich Julius, der das Panopticon ebenso wie Foucault nicht nur als architektonisches Modell, sondern als Skizze eines Gesellschaftstyps verstand. Julius sieht das Panopticon als Gegenmodell zum antiken Theater oder Zirkus, wo vielen der Überblick über wenige verschafft werden müsse. Das Panopticon brächte im Gegenteil wenigen den Überblick über viele. So, dass es in der neuen Zeit der Gesellschaft, in der private Individuen einerseits und der Staat andererseits die Hauptelemente darstellten, das entsprechende Modell zum Gesellschaftstyp sei.[10]

Das Fußballstadion ist seinerseits nun sowohl Zirkus als auch Panopticon. Seine Vordergründige Funktion ist die des Zirkus. Im Fokus steht das Schauspiel des Sportes auf dem Rasen in der Mitte des Stadions. Von den, den Rasen umgebenden Tribünen kann das Spiel der Wenigen (22 Spieler) von vielen Zuschauern verfolgt werden. Die Zuschauer ihrerseits sind im klassischen Zirkusmodell eine anonyme Masse, der Einzelne verliert sich im Kollektiv. In modernen Fußballstadien, wo einem gesteigertem Interesse an medialer Verwertbarkeit und daraus resultierender Kommerzialisierung ein gesteigertes Interesse an Sicherheit im Sinne eines reibungslosen Ablaufes folgt, finden sich auch zunehmend Charakteristika des Panopticon. Ein modernes Fußballstadion braucht eine Anlage zur Videoüberwachung der Zuschauerbereiche, auf die die Polizei, der sowohl ein eigener Einsatzleitraum, als auch eine Stadionwache zur Verfügung gestellt werden soll, Zugriff haben muss.[11] Jeder Bereich des Stadions kann so überwacht werden, die Stadionwache samt Arrestbereichen bietet Raum delinquente Fans schon vor Ort in Gewahrsam zu nehmen.

So wird zunehmend versucht die Zuschauer zu identifizieren. Am leichtesten fällt dies durch Sitzplätze, so ist jeder Fan im Stadion einer genau bestimmten Platznummer zuzuordnen. Die Quote der Stehplätze ist in modernen Stadien enorm zurückgegangen. Während es im englischen Profifußball nur noch sogenannte „All-Seater“, reine Sitzplatzstadien, gibt, haben viele Stadien in Deutschland weiterhin Stehplatzkurven.[12] Da Stehplätze in internationalen Wettbewerben bereits nicht mehr zulässig sind, wird diese Entwicklung beschleunigt. Dass es dabei nicht nur um die Sicherheit der Fans, sondern eben auch um die Identifizierung von Delinquenten geht, wird ohne weiteres zugegeben. Die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) forderte 2010 die Abschaffung der Stehplätze „um zu verhindern, dass Gewalttäter im Schutz der dort größeren Anonymität Straftaten begehen.“[13] Auch der jüngst zum DFB-Präsidenten gewählte Wolfgang Niersbach verkündete in seinem Antrittsinterview mit der ‚Bild am Sonntag’: „Wenn wir die Stehplätze erhalten wollen, müssen die friedlichen Fans dafür sorgen, dass die Randalierer identifiziert und ausgegrenzt werden. Wir dürfen uns nicht von einer kleinen Minderheit terrorisieren lassen.“[14]

Wie hilfreich die Parzellierung der Zuschauermassen im Stadion bei der Verfolgung von Delinquenz ist, lässt sich am Beispiel des FC St. Pauli nachvollziehen: Am 01. April 2011 hat ein Zuschauer von der Haupttribüne einen Linienrichter mit einem geworfenen Bierbecher getroffen. Der Fan konnte über seinen Sitzplatz identifiziert werden.[15] Am 19. Dezember warf ein Fan von den Stehplätzen der Südtribüne eine Kassenrolle und traf damit einen Spieler der Gastmannschaft auf Frankfurt am Kopf. Seiner wurde der Verein nur habhaft nachdem sich der Fan stellte.[16]

Der eingangs erwähnte städtebauliche Aspekt der Makroperspektive lässt sich im Fußballkontext ebenso anwenden: moderne Stadien werden in der Regel außerhalb der Stadt in ländlichen oder industriellen Gebieten in der nähe eines Autobahnzubringers gebaut. Hier kann Fantrennung effizient durchgeführt werden und, sollte dies doch einmal nicht gelingen, verursachen die Fangruppierungen am Stadtrand wenig Schaden für die Gesellschaft und üben keinen Einfluss auf das Konsumklima aus.

3.2. Anonymität der Macht

Elementarer Bestandteil des Panoptismus, der Überwachung und der Individualisierung ist die Anonymität der Macht. Umso stärker die Macht anonymisiert wird, desto stärker können Individuen in der Masse individualisiert werden und je stärker Einzelne aus der Masse individualisiert werden, desto stärker wird die Macht anonymisiert.

3.2.1. Eine Maske der Macht: Die „Szenekundigen Beamten“

Zur Individualisierung von Fußballfans werden von der Polizei unter anderem „Szenekundige Beamtinnen und Beamte“ (SKB) eingesetzt. Sie bewegen sich stets nah an den Fans, beobachten diese und erstellen Lageeinschätzungen. Sie werden selten ausgetauscht und lernen die jeweilige Fanszene und ihre Protagonisten kennen.[17] Zwar sind sie auch den Fanszenen bekannt, so dass der Eindruck entstehen könnte, sie gäben der Macht gar ein Gesicht und trügen nicht zu ihrer Anonymisierung bei, doch ist ihr Bekanntheitsgrad für die Anonymisierung der Macht irrelevant, eventuell sogar förderlich, schließlich geht von den SKB lediglich Aufklärungsarbeit aus, sie bieten dabei den Fans aber Reibungsfläche. Diesbezüglich sei an die These die Macht wirke in den Beziehungen erinnert. Durch die enge Verbindung zwischen den SKB und den Fußballfans gewinnt der Polizeiapparat einen erhöhten Einfluss auf den Einzelnen in der Masse der Fans, ohne dabei jedoch zwangsläufig eine Wirkung zwischen Beamten und Fans in einem auf alle Fans gleichermaßen zutreffenden Rahmen zu bedingen. Die SKB sind Stellvertreter der Disziplinarmacht womit aus ihrer Anwesenheit eine Machtbeziehung eröffnet wird. Die Möglichkeit, vom SKB als „anormaler Fan“ identifiziert zu werden, genügt der Normierungsmacht dieser Beziehung. Die Funktion des SKB ist die dominante und das, was die Beziehung zu den Fans prägt; in diese Funktion kann auch eine andere Person eingesetzt werden.

Die Vollstreckungsgewalt geht jedoch von den Einsatzkräften aus, die in ihren Uniformen und (abgesehen von Berlin) ohne individuelle Kennzeichen eine aus Sicht der Fußballfans nicht unterscheidbare Masse von Polizist_innen darstellen. Die Einsatzkräfte werden nicht isoliert als Individuen wahrgenommen, sondern als Vertreter_innen einer Institution, die der Überführung in die Delinquenz dient.

„97 % der Ultras in den neuen und 71,7 % der Ultras aus den alten Bundesländern gaben in der Untersuchung von Pilz an, dass das Verhältnis zur Polizei schlecht ist. Aus einem Interview zitiert Prof. Pilz ein Mitglied der Ultraszene wie folgt: ‚Das Verhältnis zur Polizei – das sind Arschlöcher, das sind einfach Arschlöcher. Diese Leute sind dafür angestellt, uns irgendwie was anzuhängen. Kommen pissfreundlich daher, wollen lediglich ein paar Informationen haben und von hinten treten sie dir dann noch mal nach. Also meinetwegen können die alle tot umfallen und möglichst sofort.’. Die tiefgreifende Ablehnung gegenüber der Polizei kommt in einem weiteren Interview deutlich zutage: ‚Wenn mein Kind Bulle werden will, würde ich’s, glaub ich, umbringen. Das wäre die Niederlage meines Lebens. Der kann schwul werden, der kann Marsmännchen anbeten.’. Durch die vorherrschende Grundeinstellung der Ultras werden polizeiliche Maßnahmen häufig als übertrieben willkürlich und nicht verhältnismäßig empfunden. Ein großes Polizeiaufgebot empfinden Ultragruppierungen bereits als Provokation und Anlass für Auseinandersetzungen.“[18]

Hier wird deutlich, wie Polizei und Fans jeweils gegenseitige Feindbilder aufbauen und pflegen, doch ist dies weniger als eine persönliche bzw. gruppenübergreifende Fehde zu begreifen sondern viel mehr als Mechanismus der Macht, schließlich sind sie alle, SKB oder Bereitschaftspolizist, Ultrà oder Familie Elemente in einer Machtstruktur,

„[d]enn die Überwachung beruht zwar auf Individuen, doch wirkt sie wie ein Beziehungsnetz von oben nach unten und bis zu einem gewissen Grade auch von unten nach oben und nach den Seiten. Dieses Netz ‚hält’ das Ganze und durchsetzt es mit Machtwirkungen, die sich gegenseitig stützen: pausenlos überwachte Überwacher. In der hierarchisierten Überwachung der Disziplinen ist die Macht keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert.“[19]

3.2.2. Macht/Wissen durch Fankategorien und die Datei Gewalttäter Sport

Zur Bezeichnung der Individuen ist die normierende Sanktion ein tragender Mechanismus:

„Die Anordnung nach Rängen oder Stufen hat eine zweifache Aufgabe: sie soll die Abstände markieren, die Qualitäten, Kompetenzen und Fähigkeiten hierarchisieren; sie soll aber auch bestrafen und belohnen. Die Reihung wirkt sanktionierend, die Sanktionen wirken ordnend. Die Disziplin belohnt durch Beförderungen, durch die Verleihung von Rängen und Plätzen; sie bestraft durch Zurücksetzungen. Der Rang selber gilt als Belohnung oder Bestrafung.“[20]

Ein derartiges Raster, eine Rangfolge der Individuen in einer Fanstruktur, eine detaillierte Auflistung, wer welche Aufgaben und Funktionen übernimmt, von wem welche potentiellen Gefahren ausgehen, zu erstellen ist Aufgabe der SKB.

Neben der direkten Aufklärungsarbeit zum Verhalten bestimmter Individuen werden Fußballfans in der polizeilichen Analyse in drei Kategorien eingeteilt:

  • Kategorie A = normaler Fan
  • Kategorie B = bedingt gewaltbereit
  • Kategorie C = gewaltbereit, suchen Auseinandersetzungen [21]

Dies ist ein Paradebeispiel für den Macht-Wissen-Komplex im Sinne Foucaults. Hier wird mit quasi sozialwissenschaftlichen Methoden Wissen erzeugt aus dem sich Machtbeziehungen ableiten.[22]

Wer wann und aus welchem Grund welcher Kategorie zugeordnet wird, bleibt im Allgemeinen untransparent. Sogenannte Problemfans rekrutieren sich in dieser Logik aus den Kategorien B und C. Das ergibt Sinn individualisiert die Macht doch „durch vergleichende Messungen, die sich auf die „Norm“ beziehen“[23], die Individualisierungsmechanismen also immer auf die Abweichung von der Norm anzusetzen sucht.[24]

Eng mit diesen Kategorien verzahnt ist die „Datei Gewalttäter Sport“. Diese Datei umfasst mittlerweile mehr als 13.000 Menschen. Zur Aufnahme reicht ein Verdacht; eine Löschung der persönlichen Daten aus ihr hingegen erweist sich in der Regel als schwieriges Anliegen.[25]

Die weitreichenden Folgen für die individuelle Freiheit und Freizügigkeit, die aus den Kategorisierungen im Allgemeinen und der Datei Gewalttäter Sport im Speziellen resultieren sind den Fans bewusst. Ebenso sind im kollektiven Bewusstsein der Fußballfans jene persönlichen Geschichten[26] von Fußballfans bekannt, die offenbar ohne Schuld ein Stadionverbot erhalten haben oder in die Datei Gewalttäter Sport aufgenommen wurden.

3.3. Freiheitsberaubung durch Ausschluss: Stadionverbote als subjektives Gefängnis

„In den Augen des Gesetzes mag die Haft bloße Freiheitsberaubung sein. Tatsächlich enthielt sie immer ein technisches Projekt.“[27] Zwar gibt es die Haftstrafe auch in der Vita einiger Fußballfans, dem vorgelagert ist aber eine etwas weniger ganzheitliche Strafe: das Stadionverbot. Was beim Gefängnis die Einsperrung ist, ist beim Stadionverbot die Aussperrung, die aus dem Blickwinkel der Fußballfans jedoch dieselbe vordergründige Funktion der Freiheitsberaubung inne hat. DFB und DFL haben dieser allgemeinen Sanktion für Fußballfans ein umfassendes Regelwerk zu Grunde gelegt, dass es Vereinen und Verbänden erlaubt, nahezu jeden Fußballfan zu sanktionieren, soll doch

„[d]ie Festsetzung eines Stadionverbotes […] im Hinblick auf die Zwecksetzung (§ 1 Abs. 2) möglichst zeitnah zur sicherheitsbeeinträchtigenden Handlung des Betroffenen und in der Regel zu dem Zeitpunkt erfolgen, zu welchem dem Hausrechtsinhaber die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens bzw. die Durchführung eines sonstigen Verfahrens oder das Vorliegen eines ausreichenden Verdachts der Verwirklichung eines Tatbestandes nach § 4 dieser Richtlinie bekannt wird.“[28]

Es braucht demnach keine Verurteilung durch ein ordentliches Gericht um mit einem Stadionverbot belegt zu werden, vielmehr reicht ein einfacher Verdacht oder die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Das System der Stadionverbote ist seinem Wesen nach ein Disziplinarsystem mit normierender Funktion:

„Im Herzen aller Disziplinarsysteme arbeitet ein kleiner Strafmechanismus, der mit seinen eigenen Gesetzen, Delikten, Sanktionsformen und Gerichtsinstanzen so etwas wie ein Justizprivileg genießt. Die Disziplinen etablieren eine ‚Sub-Justiz’; sie erfassen einen Raum, der von den Gesetzen übergangen wird; sie bestrafen und qualifizieren Verhaltensweisen, die den großen Bestrafungssystemen entwischen.“[29]

Die normierende Funktion des Stadionverbots ist dabei weniger die Strafe als solche, sondern vielmehr die forcierte Trennung des sanktionierten Fans von den anderen Fans, denn „[d]er erwartete Besserungseffekt resultiert weniger aus Sühne und Reue als vielmehr direkt aus der Mechanik einer Dressur. Richten ist Abrichten.“[30]

Die hier aufgezeigte Mechanik der Disziplin funktioniert auch bei anderen Sanktionen zur Einschränkung der individuellen Freiheit wie beispielsweise polizeilichen Meldeauflagen während eines Fußballspiels.

4. Die Produktion von Delinquenz und das Schaffen eines Milieus

„Das Gefängnis ermöglicht, ja begünstigt die Organisation eines solidarischen und hierarchisierten Milieus von Delinquenten, die zu allen Komplizenschaften bereit sind[…] [u]nd in diesen Klubs [also Milieus, d. Verf.] spielt sich die Erziehung des jungen Delinquenten ab[…].“[31]

Wenngleich das Gefängnis, wie in Abschnitt 3.3. bereits erwähnt im für Fußballfans gängigen Strafsystem eine untergeordnete Rolle einnimmt, lässt sich dennoch in diesem Kontext ein Kreieren von Milieus nachvollziehen.

„Verantwortlich für diese Entwicklung [Zunahme von Gewalt im Fußballkontext, d. Verf.] ist eine, gemessen an der Zuschauerzahl in den Stadien, kleine gewaltbereite Gruppe von Ultras. Diese spielen im Rahmen der Wirtschaftsbilanz eines Vereines keine Rolle. Umso unverständlicher ist der privilegierte Umgang der Vereine mit diesen Gruppierungen.“[32]

Durch die in Abschnitt 3. aufgezeigten Straf- und Disziplinarmaßnahmen, durch Selbst- und Fremdbezeichnung als „Ultras“ oder „Hooligans“ werden in der Außenwahrnehmung homogene, delinquente Milieus erzeugt, welche sich von der Norm abheben.

„Man könnte […] annehmen, daß das Gefängnis und überhaupt die Strafmittel nicht dazu bestimmt sind, Straftaten zu unterdrücken, sondern sie zu differenzieren, sie zu ordnen, sie nutzbar zu machen; daß sie weniger diejenigen gefügig machen sollen, die Gesetze überschreiten, sondern daß sie die Überschreitung der Gesetze in einer allgemeinen Taktik der Unterwerfungen zweckmäßig organisieren sollen.“[33]

Von dieser Warte ist der Text „Der deutsche Fußball und sein Gewaltproblem“ von Olaf Kühl zu lesen und zu verstehen. Hier wird ein Milieu beschrieben, seine Ausdrucks- und Aktionsformen werden herausgestellt und die verschiedenen Straftaten, die dem Milieu zuzuordnen sind werden benannt.[34]

„Die Auswertung der Delinquenz als abgesondertes und leicht zu handhabendes Milieu hat sich vor allem an den Grenzen der Legalität vollzogen. […] Als gebändigte Gesetzwidrigkeit ist die Delinquenz ein Agent im Dienste der Gesetzwidrigkeit der herrschenden Gruppen. Die Einrichtung von Prostitutionsnetzen im 19. Jahrhundert ist charakteristisch dafür[…]. Der Handel mit Waffen, in gewissen Ländern der Handel mit Alkohol oder neuerdings der Handel mit Drogen zeigen gleichfalls dieses Funktionieren der ‚nützlichen Delinquenz’: die Existenz eines gesetzlichen Verbots läßt ein Feld gesetzwidriger Praktiken entstehen, das der Kontrolle unterworfen wird und aus dem sich unerlaubter Profit ziehen läßt – und zwar mit Hilfe von Elementen, die selber gesetzwidrig sind, die man aber als Delinquenz organisiert und damit im Griff hat.“[35]

Ein Beispiel für diese „nützliche Delinquenz“ aus dem Kontext der Fußballfans ist der Einsatz von Pyrotechnik. Für viele Fußballfans gehört der Einsatz von Fackeln zu ihrem Selbstverständnis; für sie ist der Einsatz von Pyrotechnik ein stimmungsvolles Stilmittel.[36] Tatsächlich gehörten Bengalische Lichter lange Zeit zum gewohnten Bild der Fankurven.

„Es steht außer Zweifel, dass bengalische Feuer und farbiger Rauch eine ganz eigene, viele sagen auch einmalige, Atmosphäre verbreiten. Das sehen nicht nur die Fans so, denn auch in den Medien wurde über viele Jahre von der ‚herrlichen Atmosphäre’ und einer ‚Stimmung wie in einem Hexenkessel’ geschwärmt. Das Abbrennen von Pyrotechnik ist aber wegen der erhöhten Verletzungsgefahr generell – mit Ausnahme weniger Stunden um die Jahreswechsel – verboten, wurde aber in den Stadien lange Zeit noch in gewisser Weise toleriert. Erst in jüngerer Zeit wurde das Abbrennen von Feuerwerkskörpern beim Fußball tabuisiert und von den Vereinen und dem DFB verstärkt bekämpft. Mittlerweile haben auch die Medien eine ambivalente Haltung eingenommen: Bei Bildern aus dem Ausland sind positive Äußerungen nichts Ungewöhnliches, beim Einsatz in deutschen Stadien ist schnell von ‚Chaoten’ die Rede.“[37]

Was zuvor also ein zwar nicht legales aber nicht verfolgtes Stilmittel in den Kurven war, wird nun zu einer Gesetzwidrigkeit umgedeutet, womit ein Feld von Delinquenz eröffnet und definiert wird. Wir tun gut daran, diese Verschiebung unter den in Abschnitt 3.1. erörterten Aspekten der Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes im Allgemeinen und des Fußballs im Speziellen zu betrachten. Durch das Schaffen des Straftatbestandes und die daraus resultierende Entstehung eines delinquenten Milieus, werden Möglichkeiten zur Kontrolle und Einflussnahme geschaffen. Die Norm ist heutzutage der verwertbare, kommerzialisierte Raum. Erst mit der Möglichkeit die Abweichung von der Norm zu kontrollieren lässt sich Profit aus der Norm ziehen.

Die Sanktionen von Polizei, Vereinen und Verbänden werden von Fußballfans gerne als Repression wahrgenommen.[38] Die Maßnahmen schränkten sie in der Auslebung ihres Verständnisses ihrer Kultur ein. Jedoch

„muß [man] aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur „ausschließen“, „unterdrücken“, „verdrängen“, „zensieren“, „abstrahieren“, „maskieren“, „verschleiern“ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“[39]

Es ist weniger so, dass Stadionverbote, Meldeauflagen, Verbot des Einsatzes von Pyrotechnik, Versitzplatzung der Stadien, etc. Fußballfans oder Ultras im Ausleben ihrer Kultur einengen. All diese Maßnahmen sind es vielmehr erst, die den Bezugsrahmen dieser Fußballkultur abstecken.

5. Zusammenfassung / Fazit

Forschungsfrage dieser Arbeit war, ob Foucaults These, das Gefängnissystem bzw. das ihm gleichende Disziplinarsystem unserer Gesellschaft, brächte Delinquenz hervor, anstatt tatsächlich ausschließlich Straftaten zu verhindern, auf Maßnahmen und Sanktionen gegenüber Fußballfans zu übertragen sei. Wir können dabei feststellen, dass dies durchaus zutrifft. Mitunter lassen sich in Maßnahmen/Techniken gegenüber Fußballfans von Foucault beschriebene Machtmechanismen in erstaunlicher Äquivalenz wiederfinden.

Sei es die Parzellierung des Raumes, die lückenlose Überwachung von Fußballfans im Stadion und auf ihren Reisen zu den Spielen, der Einsatz von individualisierenden Vertreter_innen der Macht, der Ausschluss bestimmter Fans von Spielen und das, sich letztendlich aus all diesen Versatzstücken herausbildende, Kreieren eines delinquenten Milieus. All das sind die Mechanismen und Strukturen der Produktion von Delinquenz, die Foucault in „Überwachen und Strafen“ herausarbeitet.

Es scheint als ließe sich Foucaults Beobachtung, vorgebrachte Reformen zum Funktionsrahmen des Gefängnisapparates wiederholten sich in Aussage und Wortlaut ohne je eine Veränderung hervorgebracht zu haben auch auf Straffälligkeit im Fußball übertragen, wo schon in den 1930er Jahren getätigte Aussagen über „eine tumultsuchende Minderheit von Schurken“[40] in ihrem Wortlaut kaum von heutigen Beschreibungen über „Rowdys“, „Chaoten“ oder „Unverbesserliche“ unterscheiden.

Delinquente Milieus im Fußballkontext werden systematisch erzeugt und am Bestehen gehalten.

 

Literaturverzeichnis

Primärquellen

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Straten, Walter M.; Sulzer, Thomas: „Retten Sie den Fußball vor den Chaoten?“ 03.03.2012, unter: http://www.bild.de/sport/fussball/wolfgang-niersbach/sein-kampf-gegen-die-fan-chaoten-22954574.bild.html (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

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Unbekannter Autor: „Kassenrolle-Werfer hat sich gestellt“ 22.12.2011, unter http://www.mopo.de/fc-st–pauli/gestaendnis-in-fc-st–pauli-geschaeftsstelle-kassenrollen-werfer-hat-sich-gestellt,5067040,11345296.html (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

Unbekannter Autor: Website der Allianz-Arena, unter: http://www.allianz-arena.de/de/fakten/allgemeine-informationen/index.php (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

Sekundärquellen

Foucault, Michel: Survellier et punir. La naissance de la prison. Paris 1975: Edition Gallimard 1975. Deutsche Übersetzung: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977.

Gabler, Jonas: „Die Ultras – Fußballfans und Fußballkulturen in Deutschland“ Köln: PapyRossa Verlag 2011.

Marchi, Valerio: „Il derby del bambino morto. Violenca e ordine pubblico nel calcio“ Roma: DeriveApprodi 2005 in Francesio, Giovanni: „Tifare Contro“ Milano: Sperling & Kupfer Editori 2008. Deutsche Übersetzung: Tippmann, Kai: „Tifare Contro. Eine Geschichte der italienischen Ultras“ Freital OT Pesterwitz: Burkhardt & Partner Verlag 2010.



[1] Vgl. Foucault, Michel: Survellier et punir. La naissance de la prison. Paris 1975: Edition Gallimard 1975. Deutsche Übersetzung: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 9 ff.

[2] Ebd., S. 63.

[3] Ebd., S. 129.

[4] Ebd., S. 248 f.

[5] Vgl. Foucault 1977, Kap. III.

[6] Ebd., S. 257.

[7] Ebd., S. 259 f.

[8] Ebd., S. 268.

[9] Deutscher Fußballbund (DFB), Deutsche Fußball Liga (DFL): „Stadionhandbuch“, S. 3, unter: http://www.bundesliga.de/media/native/dfl/dfl_dfb_stadion_handbuch.pdf (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

[10] Vgl. Foucault 1977, S. 277 f.

[11] Vgl. Deutscher Fußballbund (DFB), Deutsche Fußball Liga (DFL): „Stadionhandbuch“, unter: http://www.bundesliga.de/media/native/dfl/dfl_dfb_stadion_handbuch.pdf (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

[12] Die Allianz-Arena in München stellt ausschließlich Sitzplätze zur Verfügung (66.000), wovon einige Bereiche jedoch als Stehplätze verkauft werden können. Vgl. hierzu: Website der Allianz-Arena, unter: http://www.allianz-arena.de/de/fakten/allgemeine-informationen/index.php (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

[13] Unbekannter Autor: „Abschaffung von Stehplätzen beim Fußball gefordert“ 18.03.2010, unter: http://www.focus.de/sport/fussball/bundesliga1/bundesliga-abschaffung-von-stehplaetzen-beim-fussball-gefordert_aid_490872.html (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

[14] Straten, Walter M.; Sulzer, Thomas: „Retten Sie den Fußball vor den Chaoten?“ 03.03.2012, unter: http://www.bild.de/sport/fussball/wolfgang-niersbach/sein-kampf-gegen-die-fan-chaoten-22954574.bild.html (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

[15] Unbekannter Autor: „Becherwerfer gefasst – wieder frei“ 02.04.2011, unter: http://www.mopo.de/fc-st–pauli/43-jaehriger-verursachte-spielabbruch-becherwerfer-gefasst—wieder-frei,5067040,8293392.html (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

[16] Unbekannter Autor: „Kassenrolle-Werfer hat sich gestellt“ 22.12.2011, unter http://www.mopo.de/fc-st–pauli/gestaendnis-in-fc-st–pauli-geschaeftsstelle-kassenrollen-werfer-hat-sich-gestellt,5067040,11345296.html (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

[17] Vgl. Denzer, Wolfgang; Fischer, Gerd: „Die Szenekundigen Beamten“ 25.10.2011, unter http://www.polizei.rlp.de/internet/nav/9a8/broker.jsp?uCon=7882311b-8484-2014-4b94-615af5711f80&uBasVariantCon=22222222-2222-2222-2222-222222222222 (zuletzt abgerufen am 14.04.2012).

[18] Kühl, Olaf: „Die Ultras in Fußballstadien – die Diskrepanz zwischen Support und Gewalt“ 21.10.2008, unter: http://www.gdp.de/gdp/gdpmp.nsf/id/DE_GdP_M-V_Die_Ultras_in_Fuszballstadien_die_Diskrepanz_zwischen_Support_und_Gewalt (zuletzt abgerufen am 14.04.2012).

[19] Foucault 1977, S. 228 f.

[20] Foucault 1977, S. 234.

[22] Vgl. Foucault 1977, S. 39 f.

[23] Foucault 1977, S.248.

[24] Vgl. Ebd.

[25] Vgl. Arbeitsgemeinschaft Fananwälte: „Datei Gewalttäter Sport“ April 2011, unter: http://fananwaelte.de/Forderungen/Datei-Gewalttaeter-Sport/1,000000306302,8,1 (zuletzt abgerufen am 09.04.2012).

[26] Vgl. Wolf, Matthias: „Das kann jedem Fan passieren!“ 19.03.2012, unter http://www.11freunde.de/bundesligen/150467 (zuletzt abgerufen am 14.04.2012).

[27] Foucault 1977, S. 330.

[28] Deutscher Fußballbund (DFB), Deutsche Fußball Liga (DFL): „Richtlinien zur einheitlichen Behandlung von Stadionverboten“ S. 5, §3 (3) März 2008, unter http://www.bundesliga.de/media/native/dfl/sicherheit/stadionverbotsrichtlinien_0104.pdf (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

[29] Foucault 1977, S. 230.

[30] Ebd., S. 232.

[31] Ebd., S. 343 f.

[32] Kühl, Olaf: „Der deutsche Fußball und sein Gewaltproblem“ unter: http://www.gdp.de/gdp/gdpmp.nsf/id/DE_GdP-M-V-Der-deutsche-Fussball-und-sein-Gewaltproblem (zuletzt abgerufen am 15.04.2012). Hervorhebungen im Original.

[33] Foucault 1977, S. 350 f.

[34] Vgl. Kühl, Olaf: „Der deutsche Fußball und sein Gewaltproblem“ unter: http://www.gdp.de/gdp/gdpmp.nsf/id/DE_GdP-M-V-Der-deutsche-Fussball-und-sein-Gewaltproblem (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

[35] Foucault 1977, S. 359 ff.

[36] Vgl. „Pyrotechnik legalisieren! Emotionen respektieren!“ unter http://www.pyrotechnik-legalisieren.de (zuletzt abgerufen am 15.04.2012).

[37] Gabler, Jonas: „Die Ultras – Fußballfans und Fußballkulturen in Deutschland“ Köln: PapyRossa Verlag 2011, S. 145.

[38] Gabler 2011, S. 159 ff.

[39] Foucault 1977, S. 250.

[40] Marchi, Valerio: „Il derby del bambino morto. Violenca e ordine pubblico nel calcio“ Roma: DeriveApprodi 2005 in Francesio, Giovanni: „Tifare Contro“ Milano: Sperling & Kupfer Editori 2008. Deutsche Übersetzung: Tippmann, Kai: „Tifare Contro. Eine Geschichte der italienischen Ultras“ Freital OT Pesterwitz: Burkhardt & Partner Verlag 2010, S. 27.

St. Pauli, Deutschland und die Demokratie

Bernd Georg Spies, Vizepräsident des SC Paderborn hat bei der heutigen Sicherheitskonferenz von DFB und Ligaverband den neuen Verhaltenskodex unterschrieben. Natürlich ist Herr Spies nicht beim SC Paderborn sondern bei unserem FC St. Pauli angestellt tätig, aber offensichtlich nicht in der Lage seine Unterschrift an der richtigen Stelle zu platzieren. Doch sei es drum, wichtig ist nicht wer wo unterschrieben hat, sondern was dort jemand für den FC St. Pauli unterschrieben hat.

Der Verhaltenskodex ist hier abzurufen. Hier findet sich eine erläuternde Pressemitteilung.

Was wurde dort also unterzeichnet. Kommen wir zunächst zu den positiven Punkten:
Die Stehplätze bleiben im deutschen Fußball erhalten. Was eigentlich keiner besonderen Hervorhebung bedürfen sollte, muss leider angesichts populistischer Forderungen in der jüngeren Vergangenheit und der Vollversitzplatzung der Stadien in anderen Ländern (Bsp. England) als absolut positiver Aspekt hervorgehoben werden.

Zudem werden die Mittel für Fanprojekte erhöht. Praktisch wird das so aussehen, dass der Beitrag der Vereine verdoppelt wird. Die bisherige Dreiteilung der Finanzierung von Fanprojekten zu je 1/3 durch Bund, Länder und Vereine gestaltet sich in Zukunft so, dass je 1/4 durch Bund und Länder finanziert wird. Die Vereine tragen zukünftig 50% der Kosten. Effektiv bedeutet das mehr Geld für die Fanprojekte, was positiv zu bewerten ist. Es ist aber kritisch anzumerken, dass sich der öffentliche Sektor wieder einmal aus der Verantwortung stiehlt und seine eigentlichen Aufgaben den Vereinen als privaten (gemeinnützigen) Akteuren überlässt.

Das jedoch ist hinsichtlich der weiteren Beschlüsse, eine Pille, die so schwer zu schlucken nicht ist. So wurde mit der heutigen Konferenz die 2007 beschlossene Limitierung der maximalen Stadionverbotsdauer auf 3 Jahre wieder gekippt. Zukünftig liegt die Höchststrafe im Regelfall bei 5, in Ausnahmefällen bei 10 Jahren. Eine aus rechtsstaatlicher Perspektive fragwürdige Praxis bekommt damit wieder stärkere Auswirkungen. Bekanntlich reicht die Aufnahme eines polizeilichen Ermittlungsverfahren, was beim heute gängigen Sicherheitswahn schnell und vor allem jeder/m passieren kann, zum Kassieren eines Stadionverbotes. Selbst bei gerichtlichem Freispruch kann es also schlimmstenfalls sein, dass die betreffende Person 10 Jahre ausgesperrt bleibt, denn Stadionverbote, gerade die vom DFB verhängten, werden bekanntlich selten zurückgenommen.

Hinsichtlich des alten Leidthemas Pyrotechnik wurden ganz im Sinne der Sicherheitsfanatiker auch endlich Nägel mit Köpfen gemacht. Die unterzeichnenden Vereine erklären, Pyrotechnik in keiner Weise bei Fußballspielen und in deren Umfeld zu dulden und Zuwiderhandlungen konsequent zu sanktionieren. Natürlich stehen in diesem Zusammenhang wieder die guten alten „Fanprivilegien“ auf dem Prüfstand. Eine spekulative Antwort zur Frage, was für Privilegien das sein sollen, erspare ich uns besser. Das alles geschieht, versteht sich, nur „zum Schutz der einzigartigen Fankultur“.

Ferner wurde über weitere Sicherheitstechnik und andere infrastrukturelle und organisatorische Maßnahmen zur Steigerung der Stadionsicherheit diskutiert. Abschließend wir die Pressemitteilung mit zwei wundervollen O-Tönen, der beiden Oberen von Fußballbund und Ligaverband garniert:

„Wer für den Fußball ist, ist gegen Gewalt. Der Schulterschluss der Vereine ist ein wichtiger Schritt und die beschlossenen Maßnahmen sind für mich ein dringend notwendiges Zeichen, dass sich alle der Verantwortung stellen und für mehr Sicherheit eintreten wollen. Zusammen mit Politik, Polizei, Justiz und der großen Masse der friedlichen Fans muss es uns im Sinne des gesamten deutschen Fußballs gelingen, die kleine Gruppe der Störer und Gewalttäter noch besser in den Griff zu bekommen. Ein klares Bekenntnis zu präventiven Aufgaben und gleichzeitig keine Toleranz bei jeder Form von Gewalt – das wird auch weiterhin unser Weg sein.“
(DFB-Präsident Wolfgang Niersbach)

„Der Fußball in Deutschland ist ein Erfolgsmodell und soll es auch künftig bleiben. Wir können stolz sein auf eine traditionsreiche Fankultur mit Stehplätzen und moderaten Eintrittspreisen. Diesen Zustand wollen wir schützen. Und deshalb stellen sich die Klubs ihrer Verantwortung im Sinne von Millionen friedlicher Fans. Vor diesem Hintergrund sind die beschlossenen Maßnahmen unverzichtbar. Dialog und Kommunikation bleiben immer die Grundlage unseres Handelns, ebenso unerlässlich ist aber eine konsequente Bestrafung von Fehlverhalten.“
(Liga-Präsident Dr. Reinhard Rauball)

Vom großartig verschlagworteten Gleichnis Für Fußball = Gegen Gewalt einmal abgesehen, bleiben die grauen Herren natürlich die Erklärung schuldig welcher Zusammenhang noch einmal zwischen Pyrotechnik und Gewalt besteht, doch die Hoffnung dahingehend eine Antwort zu erhalten, die über „Das ist sowieso verboten.“ oder „Das ist gefährlich.“ hinausgeht, habe ich bereits vor einiger Zeit aufgegeben.

Bezeichnend ist die wiederholte Forderung nach Denunziantentum und Distanzierung. Es wird hier eine Konfliktlinie zwischen einer vermeintlichen Norm (friedliche Fans) und ihrer Abweichung (Gewalttäter) gezeichnet, die so nicht existiert bzw. existieren muss. Das ist auch der Punkt, wo Fußballfans unter anderem ansetzen können. Einen derartigen Konflikt zwischen Fans muss es ebenso wenig geben, wie es eine Norm unter Fans gibt.

So bleibt abschließend zu sagen, dass dieses ‚Manifest der Sicherheit‘ sich anschickt einen weiteren Sargnagel für die Fankultur darzustellen. Vereine, Verbände und Politik schnüren das Korsett für kulturelle Entwicklung in den Stehplatzkurven erneut enger. Doch letztlich ist das nur ein erwartbarer Versuch das zu kontrollieren, auf das derartige Institutionen noch nie einen Einfluss hatten. So schrieb einst schon Rudolf Rocker:

„Staaten schaffen keine Kultur, wohl aber gehen sie häufig an höheren Formen der Kultur zugrunde. Macht und Kultur im tiefsten Sinne sind unüberbrückbare Gegensätze.“
(Rocker, Rudolf: Nationalismus und Kultur) 

Lasst uns also hoffen und unser bestes tun, dass auch die hohe Eminenz der Stadionsicherheit an unserer Kultur zugrunde geht. Wer für die Fankultur ist, ist gegen Regeln und Sanktionen.

Kranke Subjekte in der Leistungsgesellschaft?

Ein etwas älteres Essay aus meiner Schublade zur Frage, was es heutzutage bedeutet gesund zu leben.

Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gesundheit „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“[1]

Ich bin immer gerne zur Schule gegangen. In der Schule, das wusste ich, treffe ich meine Freund_innen und werde Spaß haben. Dass die Schule eine Bildungsinstitution darstellt, war für mich stets schmückendes Beiwerk einer Einrichtung, die – subjektiv empfunden – in erster Linie Aufbau und Pflege sozialer Kontakte diente. Schon in der Grundschule war ich kein Freund von Hausaufgaben, wollte ich doch viel lieber altersgerechten Beschäftigungen nachgehen, wie z.B. Baumhäuser bauen. Diese Laissez-faire-Einstellung zog sich durch mein komplettes Schulleben. Am Ende stand ich ohne viel Zutun mit einem passablen Abitur da. Wahrscheinlich bin ich einer der letzten Heranwachsenden in Deutschland, der sich so durch seine Schulzeit bewegt hat. Der Fokus war stets auf das persönliche Glück gerichtet, dabei galt es so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich zu machen. Schule machte dann Spaß, wenn sie frei von Zwängen stattfand.

Eine solche Einstellung ist jungen Menschen heute nahezu unmöglich. Der demographische Wandel und die sich stetig verbessernden medizinischen Möglichkeiten lassen unsere Gesellschaft immer älter werden. Diese Begebenheit hat direkten Einfluss auf die quantitativ schrumpfende junge Generation. Damit ein angemessener Lebensstandard auch im Alter gewährleistet ist, hofft man auf konkurrenzfähigen Nachwuchs. Mit dem Ziel junge Menschen dem Arbeitsmarkt schneller zur Verfügung zu stellen wurde mit der G8-Reform – im Volksmund das „Turbo-Abi“ – die Gymnasialzeit um ein Jahr gekürzt. Was sind die Gründe für diese Reform? Wie kam es dazu? Was bedeutet die Reform im Speziellen und die Schule im Allgemeinen für die Kinder? Was ist das für eine Gesellschaft, auf die die Schüler_innen vorbereitet werden sollen?

Erste Vorstöße zu dieser Verkürzung kamen bereits in den 1990er Jahren aus den Reihen des Bundesfinanzministeriums. Ein_e Gymnasiast_in kostet pro Schuljahr 5.000 Euro, das Einsparpotential ist also enorm. Es geht aber nicht nur um Einsparungen, sondern auch um Mehrwert. Dieser Mehrwert entsteht durch die schnellere Verfügbarkeit am Arbeitsmarkt. In diesem Sinne ist mitunter auch die Aussetzung der Wehrzeit zu betrachten.

Die Lehrinhalte bleiben trotz der Schulzeitverkürzung erhalten. Die daraus resultierende Mehrbelastung bedeutet in erster Instanz den Verlust von Freizeit und damit einhergehend den Verlust von Freiheit. Infolgedessen kommt es zwangsläufig zu einem Anstieg der psychischen Belastung für die Schüler_innen. Immer mehr Kinder leiden unter Stress und daraus resultierenden Kopfschmerzen. Eltern wird erklärt, woran sie erkennen können, ob ihr Kind ein „Burn-out“ erleidet. Belastungen, die selbst bei Erwachsenen als unnötig erscheinen sollten, werden nun bereits Kindern systematisch antrainiert. Kinder, die die Belastung nicht aushalten, werden vom System aussortiert. Für sie bleibt eine zu geringerer Qualifikation führende, niedrigere Schulform und – daraus in der Regel folgend – schlechter bezahlte Arbeitsplätze. Wer das Abitur anstrebt, ist die komplette Schullaufbahn angehalten in einem ähnlich hohen Pensum zu arbeiten, wie erwachsene Angestellte. Auf natürliche Entwicklungsphasen, wie die Pubertät, in denen Heranwachsende dazu neigen mit den Gedanken bei anderen Dingen zu sein, als bei den schulischen Aufgabenbereichen, kann keine Rücksicht genommen werden. Reißerisch formuliert, könnte man sagen, die hässliche Fratze unserer Leistungsgesellschaft manifestiert sich in leeren Fußballplätzen und verstaubten Puppenhäuschen.

Die Schule dient in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur der Vermittlung von Lehrinhalten, sie dient viel mehr noch der Vorbereitung auf das Leben in der Gesellschaft, auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt. Die Schule ist institutionelle Disziplinierung zur Vorbereitung auf ein Leben in einer kapitalistischen Verwertungslogik, in der das Leben selbst und damit einhergehend die Gesundheit in den Hintergrund rücken, gar zu Mitteln zum Zweck verkommen.

Auf dem Altar des Gemeinnutzens wird die individuelle Freiheit der Kinder geopfert. Die Erwachsenen nehmen den heranwachsenden Menschen das Kostbarste in ihrem Leben: die Kindheit, in der das Kind einfach Kind sein kann. Wie gerne erinnern wir uns an unsere Kindheit, an das Herumtollen und die Leichtigkeit? Eine unbeschwerte Kindheit gilt als erstrebens- und beneidenswert. Elementarste Erfahrungen zur Persönlichkeitsbildung werden demnach auf ein Minimum reduziert.

Die Schulreform hat nicht nur für die jüngeren Schüler_innen verheerende Folgen, auch auf die älteren Semester wird nicht geringer Einfluss genommen. Durch Schwerpunktmodule in der gymnasialen Oberstufe werden die Schüler_innen gezwungen sich frühzeitig auf eine Richtung festzulegen. Hier werden nicht nur individuelle Fähigkeiten und Interessen durch die ‚Verschubladung’ vernachlässigt, sondern junge Menschen werden sprichwörtlich zu Rädchen im Getriebe ausgebildet. Die Verknappung der Freizeit hat natürlich weiterhin bestand, denn alles fokussiert sich auf die spätere Verwertbarkeit der Subjekte am Arbeitsmarkt, wo Freizeit auch Mangelware ist, gibt es doch in vielen Berufen dank E-Mail und Mobiltelefon nicht einmal einen tatsächlichen Feierabend. Die Arbeit ruht nie – genau daran werden die Heranwachsenden gewöhnt. Fähigkeiten wie eigenständiges Denken und Ereignisse wie das Sammeln von Erfahrungen oder das Machen von Fehlern verkommen zu störenden Elementen in einem – gemäß eines utilitaristischen Weltbilds – normativen Ausbildungsprozess. Die tragische Ironie dieser Marschroute ist, dass die oft als Schlüsselqualifikationen angeführten ‚Soft-Skills’ in der Schule nicht vermittelt werden. Am Arbeitsmarkt angekommen, bringen junge Arbeitnehmer_innen zwar breit gefächertes Allgemeinwissen mit, doch Eigenständigkeit und Ideenreichtum sind oftmals Mangelware. In der Angst ein globales Wettrennen zu verlieren bilden wir unseren Nachwuchs zu unfertigen Menschen und geistig-sozial verkümmerten Ausführungsorganen aus. Sie wissen zwar viel, doch der Geist sollte eben aus mehr bestehen, als bloßem Wissen. Allein daher könnte großen Teilen der Gesellschaft gemäß oben genannter Definition der WHO bereits mangelnde Gesundheit attestiert werden.

Die Schule und der schulische Ausbildungsprozess stellen sich dementsprechend als Versatzstücke in einem gesellschaftlichen System dar, das den Menschen in den Hintergrund rückt. Menschliche Gesundheit, menschliches Wohlergehen werden dafür als elementare Grundvoraussetzungen zur Leistungserbringung angesehen. Die Fähigkeit krank zu werden ist im Zuge dessen ein Störfaktor. Mittels medikamentöser oder psychotherapeutischer Behandlung soll die Leistungsfähigkeit möglichst wiederhergestellt werden, nicht um des Menschen, sondern um der Produktivität willen. Gesund zu sein, scheint heute in der Regel nicht mehr oder weniger zu bedeuten, als leistungsfähig zu sein und dem Arbeitsmarkt zur Verwertung zu Verfügung zu stehen.

Viele Krankheiten werden, durch die Belastungen von Schule, Universität und Arbeitsmarkt, unter dem vermeintlichen Sachzwang der internationalen Konkurrenzfähigkeit erzeugt. Die Behandlung dieser Krankheiten greift dementsprechend nur auf die Symptome, nie aber auf die im System begründeten Ursachen zurück. Die Schule stellt in dieser Logik die erste Stufe systematisch-institutioneller Krankheitsbildung dar.

Die Fragen, die wir uns stellen müssen, lauten: „Mit welchem Recht nehmen wir unseren Kindern das, was für uns selbstverständlich war?“, „Mit welchem Recht zwingen wir unseren Kindern unsere völlig perfide Lebensweise auf?“, „Wollen wir uns und unseren Kindern diese Lebensweise wirklich noch länger antun?“ und „Wann hören wir auf mit der Raserei und entschleunigen unseren Alltag?“

Inspiration zu diesem Essay war die Lektüre eines Artikels bei Zeit Online unter dem Titel „Liebe Marie,“. Der Autor Henning Sußebach schreibt diesen Artikel als Brief an seine 10-Jährige Tochter, die von der G8-Reform betroffen ist.


[1] Weltgesundheitsorganisation (WHO): Verfassung der Weltgesundheitsorganisation vom 22. Juli 1946, unter: http://www.admin.ch/ch/d/sr/0_810_1/index.html (zuletzt abgerufen am 12.01.2012)

Literatur

Sußebach, Henning: „Liebe Marie,“, Zeit Online, 30.05.2011 unter: http://www.zeit.de/2011/22/DOS-­G8/komplettansicht (zuletzt abgerufen am: 13.01.2012)

Weltgesundheitsorganisation (WHO): Verfassung der Weltgesundheitsorganisation vom 22. Juli 1946, unter: http://www.admin.ch/ch/d/sr/0_810_1/index.html (zuletzt abgerufen am 12.01.2012)

Wider dem weißen Wursthaar-Wahn

Soziale Freiräume sind zu verteidigen. Eine Wahrheit, die in links-progressiven Kreisen hochgehalten wird und der auch ich geneigt bin zuzustimmen. (S)Eine Nische gegen die vereinnahmende Dynamik eines Systems zu verteidigen, sie, entgegen aller innerer und äußerer Widersprüche, mit Leben zu füllen, ist die Essenz beinahe jeden subkulturellen Kontextes.

Am Wochenende bin ich in einen, von der Räumung akut bedrohten, sozialen Freiraum geraten, der mein Fall so gar nicht war. Seiner Verteidigungswürdigkeit freilich steht meine persönliche Abneigung, der den Raum nutzende Menschen gegenüber, in erster Instanz nicht im Wege. Inmitten der Dämpfe esoterischer Öle herumhängende pseudointellektuelle Menschen, die ihren ganz eigenen, auf seine Weise bornierten, Freiheitsbegriff leben, haben natürlich irgendwo ihre Berechtigung. Wer wäre ich, ihre Lebenswelt angreifen zu wollen, nur weil ich sie für mich(!) verurteile?

Die dort gemachten Erfahrungen bringen mich jedoch auf ein Thema zu sprechen, von dem ich beinahe schon gehofft hatte, der Aktualitätsbezug habe seit den Tagen meiner politischen Frühsozialisation abgenommen, leider jedoch ohne, in geradezu törichter Weise, die Regel sich wiederholender Moden zu bedenken: Wursthaare.

Es geht eigentlich weniger um die Haare als solche, deren Beurteilung schließlich ästhetischen Erwägungen zugrunde liegt und als solche kaum fundiert zu kritisieren ist. Es könnte noch angefügt werden, dass die wenigsten weißen Menschen auch nur den Hauch einer Ahnung haben, wie diese Haare zu pflegen sind und sie – das könnte schon beinahe als positiv interpretiert werden – dadurch vielen Mikroorganismen einen Lebensraum bieten.

Es geht um den Habitus weißer Menschen mit Dreadlocks bzw. überhaupt Dreadlocks auf den Köpfen weißer Menschen. Irrelevant ist dabei, ob sich die Menschen selbst als aktiv antirassistisch wahrnehmen, oder die Frisur schlicht schön finden. Bei ersteren wirkt es selbstverständlich noch perfider, dass nämlich das Imitieren von Schwarzsein ein rassistisches Moment innehat.

„Man wird nicht weniger weiß, wenn man aus einer sozial benachteiligten Familie kommt. Man ist auch nicht weniger weiß, wenn man versucht, sich Dreads wachsen zu lassen, oder Schwarze imitiert. Du meinst es ja gar nicht böse, verhälst Dich aber leider wie ein ‚guter Kolonisator’: Du bedienst Dich Schwarzer Symbole, sogar der Befreiungssymbole, eignest sie Dir an, spielst mit ihnen und bekommst dafür von den anderen Weißen Aufmerksamkeit und/oder Bewunderung für Deinen ‚Mut’ und Deine Extravaganz. Die Schwarzen Symbole werden dadurch lächerlich gemacht, weil sie durch Weiße umgedeutet und besetzt werden.“
(Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß: Der alltägliche Rassismus S. 251. 2008: München, C. Bertelsmann.)

Ergänzung:
Nun könnte dem natürlich entgegen gehalten werden, das sei ja so weder zu pauschalisieren, noch in der Regel wohl gar so gewollt. Ich wage jedoch stark zu bezweifeln, dass Rassismus einer bewussten Intention bedarf. Dann wäre ja vieles, was unter Alltagsrassismus fällt, gar kein Rassismus, dann zählte ja eine Aussage wie „Das war doch gar nicht böse gemeint“ als Entschuldigung diesbezüglich. Nein einer bewussten Intention bedarf es nicht.

Es muss ja nicht einmal so sein, dass Dreadlocks oder verfilzte Haare ein Phänomen sind, dass nur bei PoC auftauchte, nein von mir aus könnte Thor höchst persönlich mit verfilzten Haaren herumgelaufen sein. Sie sind und/oder waren in anderen kulturellen Zusammenhängen eine bekannte Erscheinung. In unserem europäischen Kontext der letzten paar hundert Jahre, spielten sie aber nun wahrlich keine Rolle. Nun geht es mir mitnichten darum, irgendeine kulturelle Reinheit zu predigen und letztlich geht es wohl nicht mal um die Haare für sich genommen. Jedoch ist anzumerken, dass im Rahmen einer rassistischen Gesellschaft das Besetzen Schwarzer Kultur, sei diese faktisch gegeben oder lediglich gefühlt, den Rassismus dieser Gesellschaft reproduziert. Wenn sich ein Zirkel rein weißer Mittelstandskids mit verfilzten Haaren in seiner vermeintlichen Extravaganz suhlt, das ganze angereichert mit Batiktüchern, Om-Zeichen und Duftkerzen und hier und da noch ein wenig eingebautem „Rastafari-Kult“, dann hat das wenig mit in irgend einer Weise aufgeklärter Weltoffenheit zu tun, sondern ist Ausdruck weißer Dominanzkultur. Das mögen diese Leute dann so nicht geplant oder beabsichtigt haben, das ändert jedoch nichts an den Tatsachen.