1. Einleitung
Michel Foucault hat in seinem wohl bekanntesten Werk „Überwachen und Strafen“ die These aufgestellt, dass das Gefängnissystem Delinquenz produziert und nicht etwa dazu dient Straftaten zu verhindern. Diese These besagt, dass das Gefängnis sich deshalb durchgesetzt hat, weil es als Institution den Mechanismen der Disziplinargesellschaft adäquat ist. Diese Arbeit untersucht, ob auch im staatlichen Umgang mit Fußballfans Delinquenz im Sinne Foucaults produziert wird und wie dies geschieht.
Hierzu ist es notwendig zunächst den von Foucault aufgezeigten Wandel der Strafpraktiken, der sich zwischen Mitte des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen hat zu skizzieren: Gesetzesbrüche werden nicht mehr als gegen Regent_innen gerichtet wahrgenommen, sondern vielmehr als etwas gegen die gesamte Gesellschaft gerichtetes (Abschnitt 2.1.). Darzustellen ist dies um zu überprüfen, ob die Mechanismen der Disziplinarmacht ungebrochen auch im Jahre 2012 im gesellschaftlichen Feld des Fußballs wirken. In Abschnitt 2.2. wird auf eine aus dem zuvor aufgezeigten Wandel resultierende Umkehr der Individualisierungsprozesse eingegangen. Veranlasste die Herrschaftsstruktur des Ancien Règime die Individualisierungstechniken auf die wenigen Herrschenden möglichst ausgeprägt anzuwenden, bedingte der Wandel der Herrschaftsverhältnisse hingegen die Möglichkeit der Individualisierung im stärksten Maße auf einzelne in der breiten Massengesellschaft anzuwenden, um dadurch jede Abweichung von der Norm kenntlich zu machen. Die Darstellung der Individualisierungspraktiken ist notwendig um im Folgenden die einzelnen Mechanismen der Machtstrukturen im Fußballkontext zu erläutern, finden sich doch auch hier die zuvor skizzierten Individualisierungsmechanismen wieder (Abschnitt 2.2.). Mittel dazu ist die Parzellierung des Raumes und der Mechanismus des Panoptismus worauf in Abschnitt 3.1. eingegangen wird. Dabei wird auch noch einmal deutlich, dass die von Foucault in „Überwachen und Strafen“ behauptete Anonymität und Eigendynamik der Macht und die Individualisierung bestimmter Mitglieder der Gesellschaft tatsächlich einander bedingen, was im Abschnitt 3.2. anhand der „Szenekundigen Beamtinnen und Beamten“ (3.2.1.), der Fankategorisierungen und der „Datei Gewalttäter Sport“ (3.2.2.) genauer zu beleuchten versucht wird.
In Abschnitt 3.3. wird in diesem Zusammenhang auf direkte Sanktionen, wie Stadionverbote und Meldeauflagen eingegangen. Hier wird argumentativ die in Abschnitt 4. aufgezeigte Funktionsweise der Produktion von Delinquenz vorbereitet. Diese bezieht sich zwar nicht ausschließlich auf die in 3.3 beschriebenen Sanktionen, sondern umfasst alle in Abschnitt 3. beschriebenen Maßnahmen und geht darüber hinaus mit dem Kreieren eines Milieus einher.
Im Zusammenhang mit der Delinquenz wird auch auf die These Foucaults eingegangen, Macht sei produktiv.
In dieser Arbeit werden zentrale Thesen Foucaults aus „Überwachen uns Strafen“ auf verschiedene Primärquellen, wie Richtlinien von Fußballverbänden, Stellungnahmen von Polizeivertreter_innen und Medienberichte über Fußballfans, sowie Sekundärliteratur zu Fußballfans angewendet. Dabei wird bewusst kein Bezug auf den aktuellen Forschungsstand zu „Überwachen und Strafen“ genommen, sondern lediglich das Originalwerk Foucaults behandelt. Ein Bezug auf jüngere Forschungsliteratur, wie beispielsweise zum Konzept der, den Gehalt von „Überwachen und Strafen“ teils ergänzende, teils aber auch konterkarierenden, „Gouvernementalität“, das Foucault in den posthum veröffentlichten Vorlesungen entfaltete, sprengte den Rahmen dieser Arbeit. Darüber hinaus gibt keine Forschungsarbeit, die „Überwachen und Strafen“ auf den Kontext von Fußballfans anwendet, womit diese Arbeit gewissermaßen „Pioniercharakter“ bekommt.
Ferner beschränkt sich diese Arbeit auf den Kontext von Fußballfans in Deutschland. Mit Sicherheit ließen sich große Teile der, in dieser Arbeit aufgezeigten, Mechanismen auch auf Fußballfanszenen in anderen (zumindest europäischen) Ländern übertragen, jedoch sprengte auch das den Rahmen dieser Arbeit.
2. Analyse von Machtstrukturen anhand „Überwachen und Strafen“
2.1. Das gegen die Gesellschaft gerichtete Verbrechen
Foucault beginnt seine Ausführungen in „Überwachen und Strafen“ mit einer Gegenüberstellung zweier Strafpraktiken. Zum einen ist das die Hinrichtung Damiens in Gestalt der Leibesmarter im Jahr 1757 und zum anderen Auszüge aus einem Reglement für ein Gefängnis aus dem Jahr 1837[1]. Zwischen der Vierteilung Damiens und der minutiösen Zeit- und Tätigkeitsplanung der Gefangenen liegt grob ein drei viertel Jahrhundert. In dieser Zeit ist in die Strafpraktiken nicht nur eine vermeintliche Form der Menschlichkeit (de facto ein Mehr an Macht) eingekehrt, sie hat sich in ihrem Wesen zu einem Disziplinarapparat verändert. Für den ersten Fall gilt: „Das Verbrechen greift über sein unmittelbares Opfer den Souverän an; es greift ihn persönlich an, da das Gesetz als Wille des Souveräns gilt; es greift ihn physisch an, da die Kraft des Gesetzes die Kraft des Fürsten ist.“[2] Womit die Marter als Strafpraktik eine rechtlich-politische Funktion bekommt, soll sie doch dazu dienen die verletzte Souveränität des/der Regent_in wieder herzustellen und die maximale Schwere des Verbrechens wie in einer Analogie abbilden. Im Falle der humanisierten Strafpraktiken der Neuzeit
„wird der Verbrecher als Feind aller bezeichnet, den zu verfolgen alle ein Interesse haben, er fällt aus dem [Gesellschafts-, der Verf.]Vertrag heraus, disqualifiziert sich als Bürger und wird zu einem, der ein Stück Natur in sich trägt. Er erscheint als Ruchloser, Monster, vielleicht als Wahnsinniger, als Kranker und bald als ‚Anormaler’.“[3]
Aus der Auffassung, dass sich ein Verbrechen nicht etwa gegen die Regierung oder das Parlament, gegen die Gerichte oder die Justiz richtet, sondern gegen die gesamte Gesellschaft als Souverän des (Rechts-)Staates, ergibt sich ein normativer Charakter des Strafvollzugs. Nur wer die Regeln, welche sich die Gesellschaft selbst auferlegt hat, befolgt, ist vollwertiger Teil der Gesellschaft, wer hingegen Gesetze bricht verwirkt seine Bürgerrechte (zumindest in Teilen). Ziel der Gesellschaft kann es jedoch nicht sein, seine Mitglieder zu verlieren, so ergibt sich – auch durch den normativen Charakter – eine Disziplinarfunktion der Strafpraktiken, schließlich sollen die verloren gegangenen Mitglieder vorgeblich wieder ihren Weg in die Gesellschaft finden, während jedoch de facto delinquente Milieus kreiert werden.
2.2. Umkehr der Individualisierungsobjekte
Aus diesem Wandel der Strafpraktiken resultiert eine Umkehr der zu individualisierenden Subjekte in der Gesellschaft.
„In einem Disziplinarregime […] ist die Individualisierung „absteigend“: je anonymer und funktioneller die Macht wird, um so mehr werden die dieser Macht Unterworfenen individualisiert: und zwar weniger durch Zeremonien als durch Überwachungen; weniger durch Erinnerungsberichte als durch Beobachtungen; nicht durch Genealogien, die auf Ahnen verweisen, sondern durch vergleichende Messungen, die sich auf die „Norm“ beziehen; weniger durch außerordentliche Taten als durch „Abstände“. In einem Disziplinarsystem wird das Kind mehr individualisiert als der Erwachsene, der Kranke mehr als der Gesunde, der Wahnsinnige und der Delinquent mehr als der Normale. Es sind jedenfalls immer die Ersteren, auf die unsere Zivilisation alle Individualisierungsmechanismen ansetzt; und wenn man den gesunden, normalen, gesetzestreuen Erwachsenen individualisieren will, so befragt man ihn immer danach, was er noch vom Kind in sich hat, welcher geheime Irrsinn in ihm steckt, welches tiefe Verbrechen er eigentlich begehen wollte. Alle Psychologien, -graphien, -metrien, -analysen, -hygienen, -techniken und -therapien gehen von dieser historischen Wende der Individualisierungsprozeduren aus.“[4]
Im Umgang mit Fußballfans lassen sich diese Individualisierungsprozeduren gut nachvollziehen. Gerade in der großen anonymen Masse, welche die Fans im Stadion und auf ihren Reisen zu den Spielen darstellen scheint ein Zerlegen dieser Masse in ihre einzelnen Bestandteile, ihre Mitglieder, das vorrangigste aller Ziele zu sein. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Fangruppierungen und -strukturen gelegt, die durch abweichendes Verhalten auffallen. Die junge Familie, als Stereotyp der Normalität, steht demnach weniger im Fokus als die Gruppe Ultras, die zwar in der Regel eine Minderheit im Stadion darstellt, durch ihr Auftreten und ihr Selbstverständnis jedoch einen großen Wirkradius erzeugt. Diese Fans rücken in das Interesse der individualisierenden Macht; sie gilt es in ihrer Struktur zu zerlegen, ihre Aktionsarten und Organisationsformen zu dechiffrieren und sie letzten Endes greifbar zu machen, um im Zuge dessen Rädelsführer_innen, Gewalttäter_innen, etc. herauszustellen. Jedem von der Norm abweichenden Fußballfan wird demnach eine eigene Akte zuteil.
Die gängige Literatur betrachtet Fußballfans im Spannungsfeld zwischen Polizei und Verbänden. Dabei sind die einzelnen Akteure nicht als gleichberechtigte, einander gegenüberstehende Konfliktparteien zu betrachten, deren einzelne Handlungen dabei aber mitunter als Reaktionen auf die Handlungen einer jeweils anderen Gruppe gedeutet und erklärt werden können und müssen. Wichtig ist es hingegen, die Machtbeziehungen, wie sie Foucault in „Überwachen und Strafen“ entwickelt auf diesen Gegenstandsbereich anzuwenden. Die Polizei ist in diesem Zusammenhang das ausführende Subjekt der Macht, dem gegenüber das individualisierte Individuum „Fußballfan“ steht. In dieser Arbeit sollen Fußballfans, Polizei und Verbände im Sinne der Mikrophysik der Macht betrachtet werden, Was bedeutet, dass Macht kein Besitz eines Einzelnen oder einer bestimmten Klasse oder Gruppe ist. Vielmehr wirkt sie in Beziehungen. Dazu ist es nötig zu beleuchten, wie die Individualisierung im Kontext der Lebenswelten von Fußballfans aussieht und sich in Relation zu den die Machtstrukturen Ausagierenden darstellt. Dies soll im Folgenden geschehen.
3. Maßnahmen gegenüber Fußballfans unter Bezugnahme auf Foucault
3.1. Räumliche Individualisierung – Das Verschwinden der Stehplätze
Im Kontext der Individualisierung nimmt die Überwachung eine zentrale Rolle ein. Ein dichtes Netz der Polizei, die Kontrolle innerhalb der Institutionen, aber auch die gesellschaftliche Kontrolle jedes einzelnen gegenüber sich selbst und allen anderen forcieren die Einhaltung der Norm. Foucault geht im Mittelteil von Überwachen und Strafen auf die normierenden Funktionsweisen der Disziplinen ein.[5] Die Disziplinarmacht entfaltet erst durch die Kontrolle und die dem Fehlverhalten folgende Sanktion seine tatsächliche Wirkung. Um diese Strategie tatsächlich durchsetzbar zu gestalten, funktioniert sie sowohl auf einer räumlichen als auch auf einer zeitlichen Achse. Die räumliche Komponente findet sich in diversen architektonischen Ausgestaltungen. Diese beziehen sich auf städtebauliche Aspekte in der Makroperspektive und die Architekturen der Institutionen in der Mikroperspektive. Stets dient die Parzellierung des Raumes der Einteilung der Individuen in diesen und damit ihrer Zuordenbarkeit und letzten Endes ihrer Kontrolle.
Die Überwachung findet dabei seine höchste Form im Panoptismus, jenem dem Panopticon Benthams entlehntem Mechanismus, welcher die perfekte Überwachung wirklich macht. Das Panopticon ist die architektonische Utopie einer Institution, in der die Überwachung bzw. Kontrolle von Individuen gefordert ist. Ein Wachturm im Zentrum und diesen ringförmig umgebende und sowohl nach außen als auch nach innen befensterte oder vergitterte Zellenblöcke sind für dieses Modell charakteristisch. Die Insass_innen (ganz gleich ob nun Gefängnis, Krankenhaus, Schule, etc.) in ihren Zellen sind ihrerseits isoliert, können nicht miteinander kommunizieren oder interagieren, sie nehmen einander nicht wahr, wohl aber sind sie sich gewahr, dass sie jederzeit von dem/der Wächter_in im Turme im Blick gehalten werden können. Foucault konstatiert dazu:
„Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen ohne Unterlaß zu sehen und zugleich zu erkennen. Das Prinzip des Kerkers wird umgekehrt, genauer gesagt: von seinen drei Funktionen – einsperren, verdunkeln und verbergen – wird nur die erste aufrechterhalten, die beiden anderen fallen weg. Das volle Licht und der Blick des Aufsehers erfassen besser als das Dunkel, das auch schützte. Die Sichtbarkeit ist eine Falle.“[6]
Ferner hält er fest:
„Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert. […] Folglich hat es wenig Bedeutung, wer die Macht ausübt. Beinahe jedes beliebige Individuum kann die Maschine in Gang setzten: anstelle des Direktors auch seine Familie […]“[7]
Daraus ergibt sich eine Internalisierung der Macht. Es ist unerheblich wer überwacht oder ob überhaupt überwacht wird. Die reine Möglichkeit überwacht zu werden, zwingt die Individuen zur Anpassung ihres Verhaltens an die Norm.
Für Foucault ist Benthams Panopticon lediglich das technische Modell eines Disziplinar- bzw. Machtmechanismus, welcher den gesamten Gesellschaftskörper durchzieht. „Der Panoptismus ist das allgemeine Prinzip einer neuen ‚politischen Anatomie’, die es nicht mit dem Verhältnis der Souveränität, sondern mit den Beziehungen der Disziplin zu tun hat.“[8]
Im Gegensatz zu den von Foucault zitierten Zeiträumen generieren sich die normativen Grundsätze der Gesellschaft heutzutage vordergründig aus der Verwertbarkeit am Markt. Diese Verwertbarkeit betrifft nahezu alle gesellschaftlichen Felder und damit auch den Profifußball. Mit der Kommerzialisierung des Fußballs geht auch eine infrastrukturelle Veränderung einher. Gerade Welt- oder Europameisterschaften dienen hierbei als Katalysator. So wurden in Deutschland zur Vorbereitung zur Weltmeisterschaft im Jahr 2006 diverse Fußballstadien modernisiert oder neu gebaut. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) und der Deutsche Fußballbund (DFB) haben im Stadionhandbuch „alle rechtlichen Grundlagen und Anforderungen, die für den Bau und die Erhaltung eines Stadions relevant sind“[9] zusammengefasst.
Foucault zitiert in Überwachen und Strafen Nicolaus Heinrich Julius, der das Panopticon ebenso wie Foucault nicht nur als architektonisches Modell, sondern als Skizze eines Gesellschaftstyps verstand. Julius sieht das Panopticon als Gegenmodell zum antiken Theater oder Zirkus, wo vielen der Überblick über wenige verschafft werden müsse. Das Panopticon brächte im Gegenteil wenigen den Überblick über viele. So, dass es in der neuen Zeit der Gesellschaft, in der private Individuen einerseits und der Staat andererseits die Hauptelemente darstellten, das entsprechende Modell zum Gesellschaftstyp sei.[10]
Das Fußballstadion ist seinerseits nun sowohl Zirkus als auch Panopticon. Seine Vordergründige Funktion ist die des Zirkus. Im Fokus steht das Schauspiel des Sportes auf dem Rasen in der Mitte des Stadions. Von den, den Rasen umgebenden Tribünen kann das Spiel der Wenigen (22 Spieler) von vielen Zuschauern verfolgt werden. Die Zuschauer ihrerseits sind im klassischen Zirkusmodell eine anonyme Masse, der Einzelne verliert sich im Kollektiv. In modernen Fußballstadien, wo einem gesteigertem Interesse an medialer Verwertbarkeit und daraus resultierender Kommerzialisierung ein gesteigertes Interesse an Sicherheit im Sinne eines reibungslosen Ablaufes folgt, finden sich auch zunehmend Charakteristika des Panopticon. Ein modernes Fußballstadion braucht eine Anlage zur Videoüberwachung der Zuschauerbereiche, auf die die Polizei, der sowohl ein eigener Einsatzleitraum, als auch eine Stadionwache zur Verfügung gestellt werden soll, Zugriff haben muss.[11] Jeder Bereich des Stadions kann so überwacht werden, die Stadionwache samt Arrestbereichen bietet Raum delinquente Fans schon vor Ort in Gewahrsam zu nehmen.
So wird zunehmend versucht die Zuschauer zu identifizieren. Am leichtesten fällt dies durch Sitzplätze, so ist jeder Fan im Stadion einer genau bestimmten Platznummer zuzuordnen. Die Quote der Stehplätze ist in modernen Stadien enorm zurückgegangen. Während es im englischen Profifußball nur noch sogenannte „All-Seater“, reine Sitzplatzstadien, gibt, haben viele Stadien in Deutschland weiterhin Stehplatzkurven.[12] Da Stehplätze in internationalen Wettbewerben bereits nicht mehr zulässig sind, wird diese Entwicklung beschleunigt. Dass es dabei nicht nur um die Sicherheit der Fans, sondern eben auch um die Identifizierung von Delinquenten geht, wird ohne weiteres zugegeben. Die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) forderte 2010 die Abschaffung der Stehplätze „um zu verhindern, dass Gewalttäter im Schutz der dort größeren Anonymität Straftaten begehen.“[13] Auch der jüngst zum DFB-Präsidenten gewählte Wolfgang Niersbach verkündete in seinem Antrittsinterview mit der ‚Bild am Sonntag’: „Wenn wir die Stehplätze erhalten wollen, müssen die friedlichen Fans dafür sorgen, dass die Randalierer identifiziert und ausgegrenzt werden. Wir dürfen uns nicht von einer kleinen Minderheit terrorisieren lassen.“[14]
Wie hilfreich die Parzellierung der Zuschauermassen im Stadion bei der Verfolgung von Delinquenz ist, lässt sich am Beispiel des FC St. Pauli nachvollziehen: Am 01. April 2011 hat ein Zuschauer von der Haupttribüne einen Linienrichter mit einem geworfenen Bierbecher getroffen. Der Fan konnte über seinen Sitzplatz identifiziert werden.[15] Am 19. Dezember warf ein Fan von den Stehplätzen der Südtribüne eine Kassenrolle und traf damit einen Spieler der Gastmannschaft auf Frankfurt am Kopf. Seiner wurde der Verein nur habhaft nachdem sich der Fan stellte.[16]
Der eingangs erwähnte städtebauliche Aspekt der Makroperspektive lässt sich im Fußballkontext ebenso anwenden: moderne Stadien werden in der Regel außerhalb der Stadt in ländlichen oder industriellen Gebieten in der nähe eines Autobahnzubringers gebaut. Hier kann Fantrennung effizient durchgeführt werden und, sollte dies doch einmal nicht gelingen, verursachen die Fangruppierungen am Stadtrand wenig Schaden für die Gesellschaft und üben keinen Einfluss auf das Konsumklima aus.
3.2. Anonymität der Macht
Elementarer Bestandteil des Panoptismus, der Überwachung und der Individualisierung ist die Anonymität der Macht. Umso stärker die Macht anonymisiert wird, desto stärker können Individuen in der Masse individualisiert werden und je stärker Einzelne aus der Masse individualisiert werden, desto stärker wird die Macht anonymisiert.
3.2.1. Eine Maske der Macht: Die „Szenekundigen Beamten“
Zur Individualisierung von Fußballfans werden von der Polizei unter anderem „Szenekundige Beamtinnen und Beamte“ (SKB) eingesetzt. Sie bewegen sich stets nah an den Fans, beobachten diese und erstellen Lageeinschätzungen. Sie werden selten ausgetauscht und lernen die jeweilige Fanszene und ihre Protagonisten kennen.[17] Zwar sind sie auch den Fanszenen bekannt, so dass der Eindruck entstehen könnte, sie gäben der Macht gar ein Gesicht und trügen nicht zu ihrer Anonymisierung bei, doch ist ihr Bekanntheitsgrad für die Anonymisierung der Macht irrelevant, eventuell sogar förderlich, schließlich geht von den SKB lediglich Aufklärungsarbeit aus, sie bieten dabei den Fans aber Reibungsfläche. Diesbezüglich sei an die These die Macht wirke in den Beziehungen erinnert. Durch die enge Verbindung zwischen den SKB und den Fußballfans gewinnt der Polizeiapparat einen erhöhten Einfluss auf den Einzelnen in der Masse der Fans, ohne dabei jedoch zwangsläufig eine Wirkung zwischen Beamten und Fans in einem auf alle Fans gleichermaßen zutreffenden Rahmen zu bedingen. Die SKB sind Stellvertreter der Disziplinarmacht womit aus ihrer Anwesenheit eine Machtbeziehung eröffnet wird. Die Möglichkeit, vom SKB als „anormaler Fan“ identifiziert zu werden, genügt der Normierungsmacht dieser Beziehung. Die Funktion des SKB ist die dominante und das, was die Beziehung zu den Fans prägt; in diese Funktion kann auch eine andere Person eingesetzt werden.
Die Vollstreckungsgewalt geht jedoch von den Einsatzkräften aus, die in ihren Uniformen und (abgesehen von Berlin) ohne individuelle Kennzeichen eine aus Sicht der Fußballfans nicht unterscheidbare Masse von Polizist_innen darstellen. Die Einsatzkräfte werden nicht isoliert als Individuen wahrgenommen, sondern als Vertreter_innen einer Institution, die der Überführung in die Delinquenz dient.
„97 % der Ultras in den neuen und 71,7 % der Ultras aus den alten Bundesländern gaben in der Untersuchung von Pilz an, dass das Verhältnis zur Polizei schlecht ist. Aus einem Interview zitiert Prof. Pilz ein Mitglied der Ultraszene wie folgt: ‚Das Verhältnis zur Polizei – das sind Arschlöcher, das sind einfach Arschlöcher. Diese Leute sind dafür angestellt, uns irgendwie was anzuhängen. Kommen pissfreundlich daher, wollen lediglich ein paar Informationen haben und von hinten treten sie dir dann noch mal nach. Also meinetwegen können die alle tot umfallen und möglichst sofort.’. Die tiefgreifende Ablehnung gegenüber der Polizei kommt in einem weiteren Interview deutlich zutage: ‚Wenn mein Kind Bulle werden will, würde ich’s, glaub ich, umbringen. Das wäre die Niederlage meines Lebens. Der kann schwul werden, der kann Marsmännchen anbeten.’. Durch die vorherrschende Grundeinstellung der Ultras werden polizeiliche Maßnahmen häufig als übertrieben willkürlich und nicht verhältnismäßig empfunden. Ein großes Polizeiaufgebot empfinden Ultragruppierungen bereits als Provokation und Anlass für Auseinandersetzungen.“[18]
Hier wird deutlich, wie Polizei und Fans jeweils gegenseitige Feindbilder aufbauen und pflegen, doch ist dies weniger als eine persönliche bzw. gruppenübergreifende Fehde zu begreifen sondern viel mehr als Mechanismus der Macht, schließlich sind sie alle, SKB oder Bereitschaftspolizist, Ultrà oder Familie Elemente in einer Machtstruktur,
„[d]enn die Überwachung beruht zwar auf Individuen, doch wirkt sie wie ein Beziehungsnetz von oben nach unten und bis zu einem gewissen Grade auch von unten nach oben und nach den Seiten. Dieses Netz ‚hält’ das Ganze und durchsetzt es mit Machtwirkungen, die sich gegenseitig stützen: pausenlos überwachte Überwacher. In der hierarchisierten Überwachung der Disziplinen ist die Macht keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert.“[19]
3.2.2. Macht/Wissen durch Fankategorien und die Datei Gewalttäter Sport
Zur Bezeichnung der Individuen ist die normierende Sanktion ein tragender Mechanismus:
„Die Anordnung nach Rängen oder Stufen hat eine zweifache Aufgabe: sie soll die Abstände markieren, die Qualitäten, Kompetenzen und Fähigkeiten hierarchisieren; sie soll aber auch bestrafen und belohnen. Die Reihung wirkt sanktionierend, die Sanktionen wirken ordnend. Die Disziplin belohnt durch Beförderungen, durch die Verleihung von Rängen und Plätzen; sie bestraft durch Zurücksetzungen. Der Rang selber gilt als Belohnung oder Bestrafung.“[20]
Ein derartiges Raster, eine Rangfolge der Individuen in einer Fanstruktur, eine detaillierte Auflistung, wer welche Aufgaben und Funktionen übernimmt, von wem welche potentiellen Gefahren ausgehen, zu erstellen ist Aufgabe der SKB.
Neben der direkten Aufklärungsarbeit zum Verhalten bestimmter Individuen werden Fußballfans in der polizeilichen Analyse in drei Kategorien eingeteilt:
- Kategorie A = normaler Fan
- Kategorie B = bedingt gewaltbereit
- Kategorie C = gewaltbereit, suchen Auseinandersetzungen [21]
Dies ist ein Paradebeispiel für den Macht-Wissen-Komplex im Sinne Foucaults. Hier wird mit quasi sozialwissenschaftlichen Methoden Wissen erzeugt aus dem sich Machtbeziehungen ableiten.[22]
Wer wann und aus welchem Grund welcher Kategorie zugeordnet wird, bleibt im Allgemeinen untransparent. Sogenannte Problemfans rekrutieren sich in dieser Logik aus den Kategorien B und C. Das ergibt Sinn individualisiert die Macht doch „durch vergleichende Messungen, die sich auf die „Norm“ beziehen“[23], die Individualisierungsmechanismen also immer auf die Abweichung von der Norm anzusetzen sucht.[24]
Eng mit diesen Kategorien verzahnt ist die „Datei Gewalttäter Sport“. Diese Datei umfasst mittlerweile mehr als 13.000 Menschen. Zur Aufnahme reicht ein Verdacht; eine Löschung der persönlichen Daten aus ihr hingegen erweist sich in der Regel als schwieriges Anliegen.[25]
Die weitreichenden Folgen für die individuelle Freiheit und Freizügigkeit, die aus den Kategorisierungen im Allgemeinen und der Datei Gewalttäter Sport im Speziellen resultieren sind den Fans bewusst. Ebenso sind im kollektiven Bewusstsein der Fußballfans jene persönlichen Geschichten[26] von Fußballfans bekannt, die offenbar ohne Schuld ein Stadionverbot erhalten haben oder in die Datei Gewalttäter Sport aufgenommen wurden.
3.3. Freiheitsberaubung durch Ausschluss: Stadionverbote als subjektives Gefängnis
„In den Augen des Gesetzes mag die Haft bloße Freiheitsberaubung sein. Tatsächlich enthielt sie immer ein technisches Projekt.“[27] Zwar gibt es die Haftstrafe auch in der Vita einiger Fußballfans, dem vorgelagert ist aber eine etwas weniger ganzheitliche Strafe: das Stadionverbot. Was beim Gefängnis die Einsperrung ist, ist beim Stadionverbot die Aussperrung, die aus dem Blickwinkel der Fußballfans jedoch dieselbe vordergründige Funktion der Freiheitsberaubung inne hat. DFB und DFL haben dieser allgemeinen Sanktion für Fußballfans ein umfassendes Regelwerk zu Grunde gelegt, dass es Vereinen und Verbänden erlaubt, nahezu jeden Fußballfan zu sanktionieren, soll doch
„[d]ie Festsetzung eines Stadionverbotes […] im Hinblick auf die Zwecksetzung (§ 1 Abs. 2) möglichst zeitnah zur sicherheitsbeeinträchtigenden Handlung des Betroffenen und in der Regel zu dem Zeitpunkt erfolgen, zu welchem dem Hausrechtsinhaber die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens bzw. die Durchführung eines sonstigen Verfahrens oder das Vorliegen eines ausreichenden Verdachts der Verwirklichung eines Tatbestandes nach § 4 dieser Richtlinie bekannt wird.“[28]
Es braucht demnach keine Verurteilung durch ein ordentliches Gericht um mit einem Stadionverbot belegt zu werden, vielmehr reicht ein einfacher Verdacht oder die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Das System der Stadionverbote ist seinem Wesen nach ein Disziplinarsystem mit normierender Funktion:
„Im Herzen aller Disziplinarsysteme arbeitet ein kleiner Strafmechanismus, der mit seinen eigenen Gesetzen, Delikten, Sanktionsformen und Gerichtsinstanzen so etwas wie ein Justizprivileg genießt. Die Disziplinen etablieren eine ‚Sub-Justiz’; sie erfassen einen Raum, der von den Gesetzen übergangen wird; sie bestrafen und qualifizieren Verhaltensweisen, die den großen Bestrafungssystemen entwischen.“[29]
Die normierende Funktion des Stadionverbots ist dabei weniger die Strafe als solche, sondern vielmehr die forcierte Trennung des sanktionierten Fans von den anderen Fans, denn „[d]er erwartete Besserungseffekt resultiert weniger aus Sühne und Reue als vielmehr direkt aus der Mechanik einer Dressur. Richten ist Abrichten.“[30]
Die hier aufgezeigte Mechanik der Disziplin funktioniert auch bei anderen Sanktionen zur Einschränkung der individuellen Freiheit wie beispielsweise polizeilichen Meldeauflagen während eines Fußballspiels.
4. Die Produktion von Delinquenz und das Schaffen eines Milieus
„Das Gefängnis ermöglicht, ja begünstigt die Organisation eines solidarischen und hierarchisierten Milieus von Delinquenten, die zu allen Komplizenschaften bereit sind[…] [u]nd in diesen Klubs [also Milieus, d. Verf.] spielt sich die Erziehung des jungen Delinquenten ab[…].“[31]
Wenngleich das Gefängnis, wie in Abschnitt 3.3. bereits erwähnt im für Fußballfans gängigen Strafsystem eine untergeordnete Rolle einnimmt, lässt sich dennoch in diesem Kontext ein Kreieren von Milieus nachvollziehen.
„Verantwortlich für diese Entwicklung [Zunahme von Gewalt im Fußballkontext, d. Verf.] ist eine, gemessen an der Zuschauerzahl in den Stadien, kleine gewaltbereite Gruppe von Ultras. Diese spielen im Rahmen der Wirtschaftsbilanz eines Vereines keine Rolle. Umso unverständlicher ist der privilegierte Umgang der Vereine mit diesen Gruppierungen.“[32]
Durch die in Abschnitt 3. aufgezeigten Straf- und Disziplinarmaßnahmen, durch Selbst- und Fremdbezeichnung als „Ultras“ oder „Hooligans“ werden in der Außenwahrnehmung homogene, delinquente Milieus erzeugt, welche sich von der Norm abheben.
„Man könnte […] annehmen, daß das Gefängnis und überhaupt die Strafmittel nicht dazu bestimmt sind, Straftaten zu unterdrücken, sondern sie zu differenzieren, sie zu ordnen, sie nutzbar zu machen; daß sie weniger diejenigen gefügig machen sollen, die Gesetze überschreiten, sondern daß sie die Überschreitung der Gesetze in einer allgemeinen Taktik der Unterwerfungen zweckmäßig organisieren sollen.“[33]
Von dieser Warte ist der Text „Der deutsche Fußball und sein Gewaltproblem“ von Olaf Kühl zu lesen und zu verstehen. Hier wird ein Milieu beschrieben, seine Ausdrucks- und Aktionsformen werden herausgestellt und die verschiedenen Straftaten, die dem Milieu zuzuordnen sind werden benannt.[34]
„Die Auswertung der Delinquenz als abgesondertes und leicht zu handhabendes Milieu hat sich vor allem an den Grenzen der Legalität vollzogen. […] Als gebändigte Gesetzwidrigkeit ist die Delinquenz ein Agent im Dienste der Gesetzwidrigkeit der herrschenden Gruppen. Die Einrichtung von Prostitutionsnetzen im 19. Jahrhundert ist charakteristisch dafür[…]. Der Handel mit Waffen, in gewissen Ländern der Handel mit Alkohol oder neuerdings der Handel mit Drogen zeigen gleichfalls dieses Funktionieren der ‚nützlichen Delinquenz’: die Existenz eines gesetzlichen Verbots läßt ein Feld gesetzwidriger Praktiken entstehen, das der Kontrolle unterworfen wird und aus dem sich unerlaubter Profit ziehen läßt – und zwar mit Hilfe von Elementen, die selber gesetzwidrig sind, die man aber als Delinquenz organisiert und damit im Griff hat.“[35]
Ein Beispiel für diese „nützliche Delinquenz“ aus dem Kontext der Fußballfans ist der Einsatz von Pyrotechnik. Für viele Fußballfans gehört der Einsatz von Fackeln zu ihrem Selbstverständnis; für sie ist der Einsatz von Pyrotechnik ein stimmungsvolles Stilmittel.[36] Tatsächlich gehörten Bengalische Lichter lange Zeit zum gewohnten Bild der Fankurven.
„Es steht außer Zweifel, dass bengalische Feuer und farbiger Rauch eine ganz eigene, viele sagen auch einmalige, Atmosphäre verbreiten. Das sehen nicht nur die Fans so, denn auch in den Medien wurde über viele Jahre von der ‚herrlichen Atmosphäre’ und einer ‚Stimmung wie in einem Hexenkessel’ geschwärmt. Das Abbrennen von Pyrotechnik ist aber wegen der erhöhten Verletzungsgefahr generell – mit Ausnahme weniger Stunden um die Jahreswechsel – verboten, wurde aber in den Stadien lange Zeit noch in gewisser Weise toleriert. Erst in jüngerer Zeit wurde das Abbrennen von Feuerwerkskörpern beim Fußball tabuisiert und von den Vereinen und dem DFB verstärkt bekämpft. Mittlerweile haben auch die Medien eine ambivalente Haltung eingenommen: Bei Bildern aus dem Ausland sind positive Äußerungen nichts Ungewöhnliches, beim Einsatz in deutschen Stadien ist schnell von ‚Chaoten’ die Rede.“[37]
Was zuvor also ein zwar nicht legales aber nicht verfolgtes Stilmittel in den Kurven war, wird nun zu einer Gesetzwidrigkeit umgedeutet, womit ein Feld von Delinquenz eröffnet und definiert wird. Wir tun gut daran, diese Verschiebung unter den in Abschnitt 3.1. erörterten Aspekten der Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes im Allgemeinen und des Fußballs im Speziellen zu betrachten. Durch das Schaffen des Straftatbestandes und die daraus resultierende Entstehung eines delinquenten Milieus, werden Möglichkeiten zur Kontrolle und Einflussnahme geschaffen. Die Norm ist heutzutage der verwertbare, kommerzialisierte Raum. Erst mit der Möglichkeit die Abweichung von der Norm zu kontrollieren lässt sich Profit aus der Norm ziehen.
Die Sanktionen von Polizei, Vereinen und Verbänden werden von Fußballfans gerne als Repression wahrgenommen.[38] Die Maßnahmen schränkten sie in der Auslebung ihres Verständnisses ihrer Kultur ein. Jedoch
„muß [man] aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur „ausschließen“, „unterdrücken“, „verdrängen“, „zensieren“, „abstrahieren“, „maskieren“, „verschleiern“ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“[39]
Es ist weniger so, dass Stadionverbote, Meldeauflagen, Verbot des Einsatzes von Pyrotechnik, Versitzplatzung der Stadien, etc. Fußballfans oder Ultras im Ausleben ihrer Kultur einengen. All diese Maßnahmen sind es vielmehr erst, die den Bezugsrahmen dieser Fußballkultur abstecken.
5. Zusammenfassung / Fazit
Forschungsfrage dieser Arbeit war, ob Foucaults These, das Gefängnissystem bzw. das ihm gleichende Disziplinarsystem unserer Gesellschaft, brächte Delinquenz hervor, anstatt tatsächlich ausschließlich Straftaten zu verhindern, auf Maßnahmen und Sanktionen gegenüber Fußballfans zu übertragen sei. Wir können dabei feststellen, dass dies durchaus zutrifft. Mitunter lassen sich in Maßnahmen/Techniken gegenüber Fußballfans von Foucault beschriebene Machtmechanismen in erstaunlicher Äquivalenz wiederfinden.
Sei es die Parzellierung des Raumes, die lückenlose Überwachung von Fußballfans im Stadion und auf ihren Reisen zu den Spielen, der Einsatz von individualisierenden Vertreter_innen der Macht, der Ausschluss bestimmter Fans von Spielen und das, sich letztendlich aus all diesen Versatzstücken herausbildende, Kreieren eines delinquenten Milieus. All das sind die Mechanismen und Strukturen der Produktion von Delinquenz, die Foucault in „Überwachen und Strafen“ herausarbeitet.
Es scheint als ließe sich Foucaults Beobachtung, vorgebrachte Reformen zum Funktionsrahmen des Gefängnisapparates wiederholten sich in Aussage und Wortlaut ohne je eine Veränderung hervorgebracht zu haben auch auf Straffälligkeit im Fußball übertragen, wo schon in den 1930er Jahren getätigte Aussagen über „eine tumultsuchende Minderheit von Schurken“[40] in ihrem Wortlaut kaum von heutigen Beschreibungen über „Rowdys“, „Chaoten“ oder „Unverbesserliche“ unterscheiden.
Delinquente Milieus im Fußballkontext werden systematisch erzeugt und am Bestehen gehalten.
Foucault, Michel: Survellier et punir. La naissance de la prison. Paris 1975: Edition Gallimard 1975. Deutsche Übersetzung: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977.
Gabler, Jonas: „Die Ultras – Fußballfans und Fußballkulturen in Deutschland“ Köln: PapyRossa Verlag 2011.
Marchi, Valerio: „Il derby del bambino morto. Violenca e ordine pubblico nel calcio“ Roma: DeriveApprodi 2005 in Francesio, Giovanni: „Tifare Contro“ Milano: Sperling & Kupfer Editori 2008. Deutsche Übersetzung: Tippmann, Kai: „Tifare Contro. Eine Geschichte der italienischen Ultras“ Freital OT Pesterwitz: Burkhardt & Partner Verlag 2010.