Kranke Subjekte in der Leistungsgesellschaft?

Ein etwas älteres Essay aus meiner Schublade zur Frage, was es heutzutage bedeutet gesund zu leben.

Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gesundheit „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“[1]

Ich bin immer gerne zur Schule gegangen. In der Schule, das wusste ich, treffe ich meine Freund_innen und werde Spaß haben. Dass die Schule eine Bildungsinstitution darstellt, war für mich stets schmückendes Beiwerk einer Einrichtung, die – subjektiv empfunden – in erster Linie Aufbau und Pflege sozialer Kontakte diente. Schon in der Grundschule war ich kein Freund von Hausaufgaben, wollte ich doch viel lieber altersgerechten Beschäftigungen nachgehen, wie z.B. Baumhäuser bauen. Diese Laissez-faire-Einstellung zog sich durch mein komplettes Schulleben. Am Ende stand ich ohne viel Zutun mit einem passablen Abitur da. Wahrscheinlich bin ich einer der letzten Heranwachsenden in Deutschland, der sich so durch seine Schulzeit bewegt hat. Der Fokus war stets auf das persönliche Glück gerichtet, dabei galt es so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich zu machen. Schule machte dann Spaß, wenn sie frei von Zwängen stattfand.

Eine solche Einstellung ist jungen Menschen heute nahezu unmöglich. Der demographische Wandel und die sich stetig verbessernden medizinischen Möglichkeiten lassen unsere Gesellschaft immer älter werden. Diese Begebenheit hat direkten Einfluss auf die quantitativ schrumpfende junge Generation. Damit ein angemessener Lebensstandard auch im Alter gewährleistet ist, hofft man auf konkurrenzfähigen Nachwuchs. Mit dem Ziel junge Menschen dem Arbeitsmarkt schneller zur Verfügung zu stellen wurde mit der G8-Reform – im Volksmund das „Turbo-Abi“ – die Gymnasialzeit um ein Jahr gekürzt. Was sind die Gründe für diese Reform? Wie kam es dazu? Was bedeutet die Reform im Speziellen und die Schule im Allgemeinen für die Kinder? Was ist das für eine Gesellschaft, auf die die Schüler_innen vorbereitet werden sollen?

Erste Vorstöße zu dieser Verkürzung kamen bereits in den 1990er Jahren aus den Reihen des Bundesfinanzministeriums. Ein_e Gymnasiast_in kostet pro Schuljahr 5.000 Euro, das Einsparpotential ist also enorm. Es geht aber nicht nur um Einsparungen, sondern auch um Mehrwert. Dieser Mehrwert entsteht durch die schnellere Verfügbarkeit am Arbeitsmarkt. In diesem Sinne ist mitunter auch die Aussetzung der Wehrzeit zu betrachten.

Die Lehrinhalte bleiben trotz der Schulzeitverkürzung erhalten. Die daraus resultierende Mehrbelastung bedeutet in erster Instanz den Verlust von Freizeit und damit einhergehend den Verlust von Freiheit. Infolgedessen kommt es zwangsläufig zu einem Anstieg der psychischen Belastung für die Schüler_innen. Immer mehr Kinder leiden unter Stress und daraus resultierenden Kopfschmerzen. Eltern wird erklärt, woran sie erkennen können, ob ihr Kind ein „Burn-out“ erleidet. Belastungen, die selbst bei Erwachsenen als unnötig erscheinen sollten, werden nun bereits Kindern systematisch antrainiert. Kinder, die die Belastung nicht aushalten, werden vom System aussortiert. Für sie bleibt eine zu geringerer Qualifikation führende, niedrigere Schulform und – daraus in der Regel folgend – schlechter bezahlte Arbeitsplätze. Wer das Abitur anstrebt, ist die komplette Schullaufbahn angehalten in einem ähnlich hohen Pensum zu arbeiten, wie erwachsene Angestellte. Auf natürliche Entwicklungsphasen, wie die Pubertät, in denen Heranwachsende dazu neigen mit den Gedanken bei anderen Dingen zu sein, als bei den schulischen Aufgabenbereichen, kann keine Rücksicht genommen werden. Reißerisch formuliert, könnte man sagen, die hässliche Fratze unserer Leistungsgesellschaft manifestiert sich in leeren Fußballplätzen und verstaubten Puppenhäuschen.

Die Schule dient in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur der Vermittlung von Lehrinhalten, sie dient viel mehr noch der Vorbereitung auf das Leben in der Gesellschaft, auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt. Die Schule ist institutionelle Disziplinierung zur Vorbereitung auf ein Leben in einer kapitalistischen Verwertungslogik, in der das Leben selbst und damit einhergehend die Gesundheit in den Hintergrund rücken, gar zu Mitteln zum Zweck verkommen.

Auf dem Altar des Gemeinnutzens wird die individuelle Freiheit der Kinder geopfert. Die Erwachsenen nehmen den heranwachsenden Menschen das Kostbarste in ihrem Leben: die Kindheit, in der das Kind einfach Kind sein kann. Wie gerne erinnern wir uns an unsere Kindheit, an das Herumtollen und die Leichtigkeit? Eine unbeschwerte Kindheit gilt als erstrebens- und beneidenswert. Elementarste Erfahrungen zur Persönlichkeitsbildung werden demnach auf ein Minimum reduziert.

Die Schulreform hat nicht nur für die jüngeren Schüler_innen verheerende Folgen, auch auf die älteren Semester wird nicht geringer Einfluss genommen. Durch Schwerpunktmodule in der gymnasialen Oberstufe werden die Schüler_innen gezwungen sich frühzeitig auf eine Richtung festzulegen. Hier werden nicht nur individuelle Fähigkeiten und Interessen durch die ‚Verschubladung’ vernachlässigt, sondern junge Menschen werden sprichwörtlich zu Rädchen im Getriebe ausgebildet. Die Verknappung der Freizeit hat natürlich weiterhin bestand, denn alles fokussiert sich auf die spätere Verwertbarkeit der Subjekte am Arbeitsmarkt, wo Freizeit auch Mangelware ist, gibt es doch in vielen Berufen dank E-Mail und Mobiltelefon nicht einmal einen tatsächlichen Feierabend. Die Arbeit ruht nie – genau daran werden die Heranwachsenden gewöhnt. Fähigkeiten wie eigenständiges Denken und Ereignisse wie das Sammeln von Erfahrungen oder das Machen von Fehlern verkommen zu störenden Elementen in einem – gemäß eines utilitaristischen Weltbilds – normativen Ausbildungsprozess. Die tragische Ironie dieser Marschroute ist, dass die oft als Schlüsselqualifikationen angeführten ‚Soft-Skills’ in der Schule nicht vermittelt werden. Am Arbeitsmarkt angekommen, bringen junge Arbeitnehmer_innen zwar breit gefächertes Allgemeinwissen mit, doch Eigenständigkeit und Ideenreichtum sind oftmals Mangelware. In der Angst ein globales Wettrennen zu verlieren bilden wir unseren Nachwuchs zu unfertigen Menschen und geistig-sozial verkümmerten Ausführungsorganen aus. Sie wissen zwar viel, doch der Geist sollte eben aus mehr bestehen, als bloßem Wissen. Allein daher könnte großen Teilen der Gesellschaft gemäß oben genannter Definition der WHO bereits mangelnde Gesundheit attestiert werden.

Die Schule und der schulische Ausbildungsprozess stellen sich dementsprechend als Versatzstücke in einem gesellschaftlichen System dar, das den Menschen in den Hintergrund rückt. Menschliche Gesundheit, menschliches Wohlergehen werden dafür als elementare Grundvoraussetzungen zur Leistungserbringung angesehen. Die Fähigkeit krank zu werden ist im Zuge dessen ein Störfaktor. Mittels medikamentöser oder psychotherapeutischer Behandlung soll die Leistungsfähigkeit möglichst wiederhergestellt werden, nicht um des Menschen, sondern um der Produktivität willen. Gesund zu sein, scheint heute in der Regel nicht mehr oder weniger zu bedeuten, als leistungsfähig zu sein und dem Arbeitsmarkt zur Verwertung zu Verfügung zu stehen.

Viele Krankheiten werden, durch die Belastungen von Schule, Universität und Arbeitsmarkt, unter dem vermeintlichen Sachzwang der internationalen Konkurrenzfähigkeit erzeugt. Die Behandlung dieser Krankheiten greift dementsprechend nur auf die Symptome, nie aber auf die im System begründeten Ursachen zurück. Die Schule stellt in dieser Logik die erste Stufe systematisch-institutioneller Krankheitsbildung dar.

Die Fragen, die wir uns stellen müssen, lauten: „Mit welchem Recht nehmen wir unseren Kindern das, was für uns selbstverständlich war?“, „Mit welchem Recht zwingen wir unseren Kindern unsere völlig perfide Lebensweise auf?“, „Wollen wir uns und unseren Kindern diese Lebensweise wirklich noch länger antun?“ und „Wann hören wir auf mit der Raserei und entschleunigen unseren Alltag?“

Inspiration zu diesem Essay war die Lektüre eines Artikels bei Zeit Online unter dem Titel „Liebe Marie,“. Der Autor Henning Sußebach schreibt diesen Artikel als Brief an seine 10-Jährige Tochter, die von der G8-Reform betroffen ist.


[1] Weltgesundheitsorganisation (WHO): Verfassung der Weltgesundheitsorganisation vom 22. Juli 1946, unter: http://www.admin.ch/ch/d/sr/0_810_1/index.html (zuletzt abgerufen am 12.01.2012)

Literatur

Sußebach, Henning: „Liebe Marie,“, Zeit Online, 30.05.2011 unter: http://www.zeit.de/2011/22/DOS-­G8/komplettansicht (zuletzt abgerufen am: 13.01.2012)

Weltgesundheitsorganisation (WHO): Verfassung der Weltgesundheitsorganisation vom 22. Juli 1946, unter: http://www.admin.ch/ch/d/sr/0_810_1/index.html (zuletzt abgerufen am 12.01.2012)