Gegen den modernen Fußball?

Heute Abend um 20:00 findet ein Autorengespräch mit 120minuten und Vert et Blanc statt. Die Autoren letztgenannten Blogs hatten für erstgenannte Seite einen Grundlagentext zu den Themen moderner Fußball und (struktureller) Antisemitismus geschrieben. Neben einigen weiteren Texten beschäftigten sich die Bremer zuletzt mit Philip Kösters Ausführungen in der 11Freunde zu RB Leipzig. Begleitend zum heutigen Autorengespräch haben die Grün-Weißen eine Literaturliste zur Verfügung gestellt.

Die Lektüre der Texte und des Autorengeplauders und gerne auch die Teilnahme an diesem (unter dem Hashtag #120modern), sei an dieser Stelle gemeinhin empfohlen. Auch Sankt Pauli ist bekanntlich keine Insel der Glückseeligkeit und ob des näher rückenden Spiels gegen RB Leipzig ist auch von braun-weißer Seite mitunter mit regressiver Kapitalismuskritik zu rechnen. Schaden kann das also nicht.

// Beitragsbild lizensiert unter CC BY 2.0 von Flickr-User Allie_Caulfield ergänzt um Pictogram von Vert et Blanc //

Der Fall Wiesenhof

Die barbarische Ausnahme in einem sonst ethisch-moralisch einwandfreiem System.

An der Weser war beinahe alles perfekt. Ein schlichtes Trikot in den Vereinsfarben ohne Sponsor. Das Fanherz hüpft, wir kennen das noch von den Trikots des FCSP vor 3 Jahren. Doch nun wendet sich das Blatt aus Fansicht zum Schlechteren. Ein Logo mit norddeutschem Bauernhaus soll laut „Bild“ die Brust der Fischköppe zieren, es gehört dem Geflügelkonzern Wiesenhof. Dieser war zuletzt in die Kritik geraten, weil er Tiere schlecht behandelt und Arbeiter_innen ausbeutet. Die ARD hatte einen entsprechenden Bericht verfasst.

Paul Heinz Wesjohan
Wiesenhofboss Paul Heinz Wesjohan, bei der Geburt von DFL-Boss Rauball getrennt (Screenshot aus "Das System Wiesenhof", ARD)

Und genau deswegen entlud sich gestern ein Shitstorm auf der Facebookseite des SV Werder Bremen. Natürlich ist es verständlich, sich über derartige Bedingungen aufzuregen nur ist es leider das typische Richtig/Falsch-Schema, das hier Antrieb ist und in bekannter Betroffenheitsrhetorik seinen Ausdruck findet. Es ist ja mitnichten so, dass diese Vorgänge ein Unikum sind und Wiesenhof der einzige Produzent, der derart mit den Tieren verfährt. Es ist vielmehr das klassische Schema in der industriellen Landwirtschaft unserer kapitalistischen Welt. Es geht hier um Profit, um Gewinnmaximierung. Die Nachfrage nach günstiger Wurst erzeugt ein entsprechendes Angebot und anders herum. Entsprechend ist der Fleischkonsum auf Rekordniveau und die Entstehungsbedingungen des Fleisches sind dem Wesen des Systems gewissermaßen äquivalent.

Die verkürzte Gutgläubigkeit, es sei damit getan, den „Ausnahmefall Wiesenhof“ zu kritisieren, ist symptomatisch für die Zeit der „99 Prozent“, die immer noch glauben, es könne eine gute (soziale?) Marktwirtschaft geben. Die Problemanalyse der „shitstormenden“ Fußballfans erinnert erschreckend an den durchaus bekannten Fokus ihrer Kritik auf den „modernen Fußball“, bei der stets vergessen wird, dass jener lediglich Auswirkung des kapitalistischen Systems ist. Doch das nur als Nebenvermerk. Grundsätzlich ist die nun aufkommende Kritik an Wiesenhof Ausdruck derer, die tatsächlich so naiv sind, zu glauben, es gebe ein richtiges Leben im Falschen (Phrasenschwein wird beschert) und das ist der Fehler.

Tatsächlich, wäre es ein anderer Konzern, der unter vergleichbaren Bedingungen produzierte, wenn es Wiesenhof nicht (mehr) gebe. Vielmehr gibt es diverse Betriebe und Konzerne weltweit die unter unwürdigen Bedingungen – für Mensch und Tier – produzieren. Dabei ist aber nicht so, dass es die guten Betriebe einerseits und die bösen Betriebe, wie den Wiesenhof-Konzern, andererseits gibt. Alles, der Bio-Hof, genau wie der unethische Massenbetrieb, der Discounter und die Edelfleischtheke, der Dumpinglohn des Wiesenhof-Arbeiters und das Konto von Herrn Wesjohan finden im selben systemischen Kontext statt. Es ist das System und nicht die schwarze Seele des Konzernchefs, das Tierquälerei, Dumpinglöhne, mangelhafte Hygienebedingungen, etc. produziert, so dass auch die Arbeit der Holocaust-Relativierer von PETA nur bedingt dazu beitragen kann, diesen Zustand zu ändern. PETA fordert mit seinen Kampagnen regelmäßig zu kritischem Konsum hinsichtlich der Tierrechte auf, also dazu vegetarisch oder besser noch vegan zu leben. Nun sei es jedem Menschen unbenommen über seine Lebensführung selbst zu entscheiden, nur ist es tatsächlich so, dass gerade jene kritische Konsument_innen den neoliberalen Geist, der das System derzeit am nachhaltigsten prägt, vortrefflich reproduzieren:

In letzter Konsequenz bedeutet dieses Verhalten eine Verschiebung der Verantwortung für gesellschaftliche Verhältnisse: weg von den Institutionen gesellschaftlicher Macht, hin zum Individuum. Und das bedeutet zugleich, dass der Markt als Regulationsinstanz Akzeptanz findet, weil er ja von bewussten KonsumentInnen genutzt wird. Politischer Konsum erscheint somit als paradigmatische Aktionsweise der Kinder des Neoliberalismus. So wird jedoch zugleich die Verantwortung von dem Bereich der Produktion in den des Konsums verlagert (Publikative.Org/Tobias Neef)

Das ist nicht als Vorwurf gegenüber irgendwem zu lesen und soll nicht die moralische Waage zugunsten der Fleischkonsument_innen ausgleichen. Das schlechte Gewissen, das Fleischkonsument_innen durch Kampagnen, wie der gegen Wiesenhof, gemacht werden soll, ist jedoch wenig hilfreich. Dadurch werden die Ursachen der Produktionsverhältnisse in Betrieben, wie denen des Wiesenhof-Konzerns, verschleiert, gleichzeitig wird versucht einen ungerechtfertigten moralischen Druck aufzubauen. Ein Verzicht auf Fleisch oder tierische Produkte mag im Stande sein das eigene Gewissen beruhigen und kann als moralische Stärkung fungieren; es gibt gute Gründe dafür fleischfrei zu leben. Es wäre jedoch falsch zu glauben, es brachte eine Änderung hervor. Ferner ist mit Schuldzuweisungen à la „Jeder, der Fleisch isst, finanziert die Produktionsbedingungen mit seinem Konsumverhalten mit“ (siehe PETA Video zu Wiesenhof ab Minute 3:20) weder den Tieren oder sonst wem geholfen sei. Beinahe ist sogar das Gegenteil der Fall: die auf diese Weise geschwungene Moralkeule nimmt Druck von den Produzenten (was aber auch keine nachhaltigen Änderungen herbeiführen kann) und verteilt sie auf die Schultern der Einzelen. Weder ein Shitstorm gegen Werder, gegen Wiesenhof oder gegen Fleischfresser wird Kapitalismus, Massentierhaltung, Dumpinglöhne, schlechte Hygienebedingungen oder irgend etwas anderes ändern – und gleiches Gilt für Kampagnen.

Natürlich kann Öffentlichkeit und ein kritisches Bewusstsein punktuelle Erfolge erzielen. Es reicht nicht, gegen Wiesenhof als einzigen Fall zu agitieren, im Allgemeinen aber das System zu tragen, damit macht man sich schließlich unglaubwürdig. Das kritische Bewusstsein muss sich aber auf das Ganze beziehen und darf nicht auf einzelne Komponenten limitiert sein. Letztlich findet der kritische Konsum, da seine Grenzen, wo ihn sich die Menschen schlichtweg nicht mehr leisten können. Mit Sicherheit kann er also eine Komponente im Kampf ums schöne Leben darstellen, aber es darf sich nicht auf ihn beschränken und sich ihm bedienen zu können, ist ein Privileg, kein moralischer Freibrief.

Kapitalismus mit rundlichem Antlitz

Investmentbanken und Hedgefonds agieren wieder wie vor der Krise, Großbanken manipulieren die Zinsen, die Manager lassen sich Traumgehälter und Phantasieboni auszahlen, Milliardenhilfen für Griechenland und andere notleidende Staaten gehen zu 80 Prozent zurück an die Banken. Das Primat der Politik steht nur noch auf dem Papier, in Wirklichkeit bestimmt die Finanzindustrie den Takt der Politik.

Vor diesem Hintergrund ist es erschütternd, wie schnell die Vorschläge von Sigmar Gabriel zur Bankenregulierung als “Populismus” (Wolfgang Schäuble) abgebürstet wurden. Denn der SPD-Chef hat recht, wenn er die Frage der Kontrolle der Finanzindustrie zur Überlebensfrage der Demokratie erklärt. Deshalb ist das Thema Finanzmarktregulierung auch das richtige Wahlkampfthema. (Sprengsatz.de)

Es geht um das Thesenpapier des Sigmar Gabriel. Die Speerspitze der revolutionären Proletarierbewegung „SPD“ hat sich in Form ihres Parteichefs zur Eurokrise positioniert und präsentiert einen klientelgerechten, weil leicht verständlichen und zutiefst populistischen, sowie der Parteilinie treu bleibenden, weil unwirksamen Lösungsansatz: den Banken das Zocken verbieten.

Weder Gabriel noch Spreng werden der Krisenproblematik hier im Ansatz gerecht. Was ist denn mit der SPD Politik unter Schröder? Und was ist vor allem mit der rot-grünen Beschäftigungspolitik dieser Tage? Wie verhält es sich denn mit der bundesdeutschen Nettolohnentwicklung und der Wirtschaftskrise?
Statt also die eigene Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung als eine der bedeutendsten Ursachen für die Krise zu benennen oder gar dem Problem mit vernünftiger Kapitalismuskritik beizukommen, wird tumb auf die armen Bankvorstände eingedroschen.

Da sitzen ein paar Vorzeigekapitalisten in den Chefetagen großer Banken und verhalten sich so, wie es das System möchte und Siggi fordert mehr Anstand und Regulierung – ganz im Sinne des „kleinen Mannes“, versteht sich. Was fordert Gabriel denn da? Anständige Kapitalisten? Kapitalismus mit menschlichem Antlitz? Mir wird schlecht!

Sprengs Text baut auf der selben ekelhaften Verblendungsrhetorik auf, wie Gabriels Thesen. Was soll das sein? Eine Wahlempfehlung für die SPD? Hier wird eine Hoffnung in die offenbar leblose Opposition gesteckt, die wirklich rein gar nichts tut, was sie als Opposition erkennbar werden ließe. Sprengs Text trieft vor der Angst dem Wahlvolk sei das Gespenst der „Alternativlosigkeit“ schon so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass Schwarz(-Gelb?) tatsächlich auch die nächste Wahl gewinnen könnte.

Die Regierung macht in der Krise tatsächlich keinen guten Job und die deutsche Austeritätspolitik wird von nahezu allen Seiten nicht zu unrecht kritisiert. Nur hat Schäuble als Regierungsvertreter mit einem Recht: Gabriels Thesenpapier ist blanker Populismus, wer etwas anderes behauptet hofiert diesen. Jeder Satz des Papiers ist als Bankerschelte zu verstehen. Als wären Finanzvorstände die Blutegel, die ein ansonsten funktionierendes System auslaugten. Hier wird mit den Ängsten und Vorurteilen der Wähler_innen gespielt. Das Wesen der Krise bleibt dabei unerwähnt und von den vorgeschlagenen Maßnahmen unberührt. Die Wähler_innen bekommen nicht mehr, sondern andere Antworten. Letztlich werden sie dabei aber nicht besser verarscht, als unter der jetzigen Regierung.

Es ist eine typisch unbeholfene, sozialdemokratische Kapitalismuskritik, wie man sie kennt. Da wirft sich das Oppositionswa(h)lross zum Wahlkampf auf den Beckenrand, winkt mit seinen falschen Thesen und … stellt fest, es kommt nicht mehr ins Wasser. Der Dompteur versucht dem gestrandeten Ungetüm mit ein wenig Wahlkampfhilfe beizukommen, doch das Wa(h)lross ist zu fett. Rein metaphorisch gesprochen, versteht sich.