In ollen Lumpen gen Moderne

Ich muss zugeben, ich bin ein bisschen enttäuscht. Beinahe mit Genugtuung habe ich die Fragezeichen in den Fressen dummdeutscher Ultras mir vorgestellt, da dieses doch sonst immer so kritische Sankt Pauli ja nun gar nichts zum Red Bull Boykott gesagt hat. Nehmen die etwa nicht teil? Natürlich nicht! Der Sankt Pauli Styleguide braucht eigentlich nur eine Seite, auf der steht: was Fußballdeutschland macht, dat lass man besser nach!

Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Rasenballsport ist müßig. Moderner Fußball bringt diverse unangenehme Erscheinungen mit sich. Versitzplatzung, Werbebeschallung, immense Bierpreise und abwegige Ablösesummen sind das eine, Rasenheizung, One-Touch-Football (nicht bei uns, aber bei RB vielleicht) und „Fußballfans gegen Homophobie“ sind das andere. Moderner Fußball ist genauso wenig das absolute böse, wie ein Heilsversprechen. Das größte Ärgernis heutiger Fußballveranstaltungen ist aber der Protest des gemeinen Michels gegen das, was er als modernen Fußball oder dessen Auswirkungen zu erkennen meint. Dabei ist nach Dietmar Hopp das neue gemeinsame Feindbild in Form von „RasenBallsport“ Leipzig schnell gefunden.

RB wird als Kunstprodukt identifiziert das gegen die eigene, vermeintliche Authentizität in Stellung gebracht wird. Doch wie viel Künstlichkeit nun gerade Red Bull ausmacht, wo die Grenze zwischen RBL, Hoffenheim, Ingolstadt, Aalen, Wolfsburg und Bayer verläuft, bleibt schwammig. Ist RBL in 40 Jahren weniger künstlich, vielleicht gar auf einer Ebene mit der Werkself aus Leverkusen? Gibt es Leverkusen dann überhaupt noch? Wie oft haben die Ultras bis dahin das Bayerkreuz gerettet? Die Künstlichkeit des Eigenen wird gar nicht in Erwägung gezogen. Kapitalismus ist ne komplizierte Angelegenheit und einfache Antworten greifen in der Regel zu kurz, wenn nicht ins Klo.

Gerade für Ultras ist die Kommerzialisierung des Sports natürlich ein Dauerbrenner. So gibt es fast keine Gruppe, die nicht ihren mehr oder minder qualitativen Senf zum Thema „Moderner Fußball“ abgegeben hat. Das ist nur logisch, stellt doch der eigene Verein die Grundlage zur Identität als Ultrá. Ultras leben(!) ihr Fansein, in hartem Kontrast zu den Konsumenten(!) modernen Fußballs. Das impliziert eine Trennung in bessere und schlechtere Fans. Entsprechend

„[bedroht d]er »Moderne Fußball« […] die heile Fußballwelt. Man weiß zwar nicht so ganz genau, wann es die mal gab und was man sich darunter vorzustellen habe – aber ehrlicher, echter und weniger kommerziell war es auf jeden Fall.“

(Vert-et-Blanc bei 120 Minuten)

Doch gerade auf Sankt Pauli haben wir doch eigentlich schon lange durchgekaut, dass es eben nicht die besseren und schlechteren Fans gibt. Es gibt verschiedene Fans, und mit denen kommt man unterschiedlich gut klar. Das ist fein. Es waren Leute, die seit ner Million Jahren zu Sankt Pauli gehen, die junge Leute beim Spiel gegen Rostock als „Faschisten“ beschimpften. Bessere Fans? Bullshit!
Mir ist scheißegal wie lange du zum Fußball gehst und wie lange dein Verein besteht, wenn du ein Guter bist, und erst seit heute dabei, dann teile ich trotzdem mehr mit dir, als mit der Pfeife, die seit ihrem dritten Lebensjahr zu Sankt Pauli geht, und trotzdem nix begriffen hat. Das macht dich zwar immer noch nicht zu nem besseren Fan, aber ist im Zweifel ne bessere Basis für Freundschaft und Solidarität als die Dauer deiner Vereinsmitgliedschaft und deine Geschichte mit dem Club. Auf das jenes nie zutreffe:

„Neuankömmlinge ohne Berge von Trikots im Schrank sind da ja misstrauisch zu beäugen.“

(Metalust & Subdiskurse)

Spätestens als Jägermeister das erste Trikotsponsoring bei Braunschweig begann und Netzer sich den Pelz und Porsche zulegte, ist der Sport als Werbeträger nicht mehr wegzudenken. Es ist aber mitnichten so, dass die Clubs nicht schon vorher der kapitalistischen Logik des Systems unterworfen gewesen wären. Anders herum wird ein Schuh draus. So sah, wer im Fußball Erfolg haben wollte, zu sich Sponsoren zu angeln und damit die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.

Gedankenexperiment: Wer ist künstlicher: Der „Traditionsverein“ der sich die Brust mit 5 Millionen per anno bezahlen lässt, oder der „Retortenclub“, der für das Gesamtpaket eine Million einzieht?

Nur zu gerne verweisen Fußballfans auf die lange Tradition ihres Vereines, der Beschissenheit eines anderen Clubs oder von gehäkelten Bierhaltern um den Hals jener Geschichtsbewussten. Man denke etwa an Nürnberg und ihr Bestreben das Stadion nach dem Rekordtorschützen der Gauliga Nordbayern zu benennen. Es gibt wichtige historische Erinnerungsarbeit, wie etwa durch die Schickeria im Falle Landauers geschehen (was sie leider nicht von einem unsäglichen Statement zum Thema „moderner Fußball“ abhält) und es gibt völlig überflüssiges Traditions-Abgefeier.

Die Tatsache, das irgendwer vor 100 Jahren den eigenen Club gegründet hat zu feiern, muss einem doch schon vor dem Hintergrund des eigenen Abkotzens über die Vorgängergeneration merkwürdig erscheinen. Traditionspflege bedeutet nicht weniger als romantisierendes Verklären der Vergangenheit und ist entsprechend das Gegenteil aufgeklärter Auseinandersetzung mit der Geschichte.

Wer Tradition gegen Moderne und Authentizität gegen Künstlichkeit stellt und damit das „Eigene“ gegen das „Fremde“ zu verteidigen begibt sich unbewusst in ideologische Nähe zu Denkfiguren, denen man nicht nah sein will, um es mal so diplomatisch wie möglich auszudrücken. Antimodernismus und romantisierendes Traditionsgehabe sind unter keinen Umständen adäquate Antworten auf den Kapitalismus.

Dabei ist es ja beinahe schon ein Treppenwitz der Geschichte, das nun genau jene, die sich Urban wähnen und gegen „Dorfultras“ positionieren, das strukturell Ländliche verklären.

Wenn sich nun also Sankt Pauli bzw USP anschickt, im Sinne eines „Aber irgendwas muss ja getan werden“, weil RBL ja so anders und so künstlich ist, in alten Trikots nach Leipzig zu fahren, und der Moderne ein Schnippchen zu schlagen, dann ist das sehr enttäuschend. Denn wenngleich sich über das Museum zu freuen ist, 1910 ein wunderschönes Gründungsjahr ist und ich viel lieber zu Sankt Pauli gehe, als zu RBL oder irgend einen anderen Verein, haben wir jüngst einen modernen Präsidenten gewählt, der unseren Club für die Zukunft fit machen möchte. Mit modernen Mitteln wird Oke Göttlich den magischen FC im Markt platzieren, um selbigen nicht den Red Bulls zu überlassen. Liberales Handeln statt regressiver Kritik. Und entsprechend sollte Sankt Pauli nicht in Lumpen in den Osten reisen, sondern in Ralph Lauren, mit Federboa und Schampus.

Gegen den pre-modernen Fußball! Forza Sankt Pauli!

Dank an die Leute, die mir mit kritischen Kommentaren zur Seite standen und Vert-et-Blanc für die fundierte Arbeit zum Thema
(Beitragsbild: CC BY-NC 2.0 von Gal / baboon auf Flickr)

Veröffentlicht von

Hugo Kaufmann

Geboren nahe einem Bauernhof in Norddeutschland wuchs Hugo in ländlicher Idylle auf. Von der Ruhe genervt zog er mit Anfang 20 in die weite Welt hinaus, getrieben von dem Ziel fortan an jeder etwas größeren Revolution teilzunehmen. Letztlich strandete er in Hamburg, wo der FC Sankt Pauli sein Revolutionsersatz wurde. Er glaubt weiter an das schöne Leben in der klassen- und herrschaftslosen Gesellschaft, weiß aber, mit Sankt Pauli wird das nicht erreicht. Es folgte die Flucht in digitale Welten, wo er das Lichterkarussell im alkoholisierten Überschwang “erfand”. Fehlende Ahnung wird seither mit exzessivem Fremdwortgebrauch zu kaschieren versucht. Halbwegs gebildete Menschen durchschauen das natürlich sofort. Motto: “Auch wenn alle meiner Meinung sind, können alle unrecht haben.”