„Ich hass euch so“

Es ist ungefähr ein Jahr her, als die Fans des FC St. Pauli eine seltene Einigkeit verspürten. Aus dem kollektiven Unverständnis über die Vermarktungsmaßnahmen unserer Vereinsführung erwuchs eine Bewegung, die ihres gleichen suchte. Geeint unter dem Jolly Rouge entwickelte sich über die Weihnachtstage und die Winterpause eine schier unglaubliche Eigendynamik. Ein wundervolles „Das ist Sankt Pauli“-Gefühl verknüpft mit immenser Euphorie. Hier wuchs etwas Gewaltiges heran, das war jeder und jedem klar.

„So etwas habe ich bei Sankt Pauli noch nicht erlebt.“ (Sinngemäß Sven Brux nach dem Heimspiel gegen Freiburg (Saison 2010/11))

Mit dem ersten Heimspiel der Rückrunde gegen den SC Freiburg explodierte diese geballte Einigkeit und manifestierte sich in einer roten Flut. Wutfans, Sankt Pauli 21, blabla wir hatten alle mächtig Oberwasser. Für viele Menschen das erste Mal Fahnenmalen, das erste Mal DIY, das erste Mal Fankultur im engeren Sinne.

Gut ein Jahr später muss konsterniert festgestellt werden: Die Idylle ist dem Alltag gewichen. Es scheint fast, als seien die Gräben zwischen den unterschiedlichsten Lagern in der Zeit als die LED-Banner wie Brücken über ihnen lagen, gewachsen. Noch weiter scheinen die Positionen auseinander zu liegen, ein steter Prozess der Entfernung.

„Man muss sich wohl eingestehen, dass es nicht die Fanszene des FC St. Pauli gibt, es gibt scheinbar nicht einmal den Minimalkonsens“ (Ein Blogger im Zwiegespräch)

Wir zerfleischen uns wegen einer geworfenen Kassenrolle. Falscher Zeitpunkt des Wurfs, vermutlich falsche Technik. Keine böse Absicht. Soweit die Faktenlage. Wir schlagen uns nach wie vor mit Menschen herum, die allen ernstes Vorsatz erkennen und diesen anprangern. Wir schlagen uns mit Leuten herum, die für diese Lappalie – nichts anderes ist das – ein lebenslanges Stadionverbot fordern und damit jeden Sinn für Verhältnismäßigkeit vermissen lassen. Kurzum schlagen wir uns mit dem bemerkenswerten Umstand herum, dass einige die Kirche wirklich niemals im Dorf lassen können.

Auf der anderen Seite bleibt die Erkenntnis, dass die Fans des FC St. Pauli, denen stets linksalternative Ansichten angeheftet werden, letzten Endes und zu größten Teilen kein „Thinktank“ für progressive Lebenswelten sondern vielmehr die Ausgeburt kleinbürgerlicher Spießigkeit zu sein scheinen. Strikte Vorstellungen von Ursache und Wirkung, Vergehen und Strafe. Ein Rechtsverständnis aufgebaut auf Bauernweißheiten wie: „Dummheit schützt vor Strafe nicht.“

Es geht hier nicht um Jung gegen Alt, Links gegen Rechts (nicht „Rechtsextrem“), locker gegen verklemmt. Aber alles davon hat seinen Einfluss auf einen Konflikt, den wir nicht mehr ausgemerzt kriegen werden. Es gibt die moralisch aufrichtigen Holzspielzeugkäufer, die ein vermeintlich friedlich-faires Bild von Sankt Pauli haben, das immer schon mehr Mythos als Realität war, das aber eben ganz reale Vertreter_innen im Stadion und innerhalb der Menschenmasse, die sich als Fans unseres Vereins wahrnehmen, findet. Es gibt die, die vielleicht mal Punks waren, mal Häuser besetzt haben oder zumindest damit sympathisiert haben, die aber dann irgendwann auch mal vernünftig / realistisch / whatever wurden, die Leute die sich „Papa, wenn ich groß bin möchte ich auch Spießer werden“ Werbung ausdenken, weil das wilde Leben ja ganz nett aber auf Dauer ja auch nicht zumutbar ist. Und da gibt es die, die sind wie ich. Die das Häkchen bei „Kapitalismus abschaffen“ auf der bekannten Pappe von den Pappboys wirklich setzen möchten, ganz gleich ob zuvor genannte da von „Träumerei“ oder so was sprechen.

Es gibt natürlich noch eine Palette an unterschiedlichsten Graustufen zwischen diesen Positionen oder auch außerhalb, wir müssen aber festhalten, dass es hier mitunter große Fraktionen gibt, deren Positionen so diametral verschiden sind, dass sie ohne schlechtes Gewissen als ‚unvereinbar’ eingestuft werden können.

Es ist im Sinne der Positionen konsequent und logisch einerseits ein lebenslanges Stadionverbot wegen einer geworfenen Kassenrolle zu fordern, genau wie die dringende Bitte an alle CDUler, die zu Sankt Pauli gehen, sich einen anderen Verein zu suchen andererseits.

Die Frage die sich daraus ergibt lautet: Wie gehen wir mit dieser Erkenntnis um?

Fest steht: Von Einigkeit und Jolly Rouge sind wir unendlich weit entfernt, das ist offen erkennbar für jede_n und das ist sehr gefährlich für die Zukunft des FCSP.

Veröffentlicht von

Hugo Kaufmann

Geboren nahe einem Bauernhof in Norddeutschland wuchs Hugo in ländlicher Idylle auf. Von der Ruhe genervt zog er mit Anfang 20 in die weite Welt hinaus, getrieben von dem Ziel fortan an jeder etwas größeren Revolution teilzunehmen. Letztlich strandete er in Hamburg, wo der FC Sankt Pauli sein Revolutionsersatz wurde. Er glaubt weiter an das schöne Leben in der klassen- und herrschaftslosen Gesellschaft, weiß aber, mit Sankt Pauli wird das nicht erreicht. Es folgte die Flucht in digitale Welten, wo er das Lichterkarussell im alkoholisierten Überschwang “erfand”. Fehlende Ahnung wird seither mit exzessivem Fremdwortgebrauch zu kaschieren versucht. Halbwegs gebildete Menschen durchschauen das natürlich sofort. Motto: “Auch wenn alle meiner Meinung sind, können alle unrecht haben.”

  • jano

    Jo, exakt, gut aufn Punkt.
    Aber wenn ich mich jetzt nach dem Text dran erinnere, dass du mich als Verfechter von „Holzspielzeugpraktiken“ betitelt hast, komme ich doch ins Grübeln…;)

    • http://lichterkarussell.net Lichterkarussell

      Das arme Holzspielzeug muss so oft herhalten bei mir 😀

      Aber die Beziehung zwischen dir und Holzspielzeug war sehr konstruiert und im Prinzip auch falsch. Mir wurde schon erzählt wie cool du eigentlich bist 😛 (Was ich ja nie wusste ^^)
      Nee Nee du gehörst auch zu den Kapitalismus Abschaffern 😉

  • http://www.stefangroenveld.com Stefan

    Schon richtig, wie so oft bei Dir. Allerdings erinnere ich mich nicht an so eine heftige Reaktion beim Bierbecher von Schalke. Hat wohl auch was mit der Abneigung von allem, was usp sein könnte zu tun – anders kann ich mir die Heftigkeit der Reaktion nicht erklären.

    • http://lichterkarussell.net Lichterkarussell

      Natürlich. Völlig richtig analysiert. Weil sich diese oben skizzierten Positionen doch in diesem ganzen Für und Wider in Bezug auf USP wiederfinden. Beim Schalke-Becher konnte man nicht auf USP rumhacken, der war ja von der Haupttribüne. Auch „verwirrt“, aber leider Mitte 40 und ohne Windbreaker.

      • astro

        Hat wohl nicht nur mit USP oder nicht USP zu tun (bestimmt aber auch, obwohl keiner der Pöbler weiß, ob der Mitglied ist oder nicht), sondern damit, daß man aus Vorkommnissen der letzten Monate nicht gelernt hat. Es gab 2x Stress mit Würfen; wie man immer noch während des Spiels – selbst in „bester Absicht“ – Dinge über den Zaun werfen kann, ist vielen Menschen schlichtweg nicht begreiflich und nebenbei auch mir nicht.

        Das rechtfertigt aber natürlich nie im Leben die Hetze, die ohne weitere Kenntnisse der Hintergründe ausgebrochen und selbst _nach_ deren Kenntnis weiter fortgeführt wurde. Wirklich traurig, was bei uns so alles für Gesocks herumläuft.

        Es ist zu hoffen und zu fordern, daß der Verein seiner Verantwortung gerecht wird und die Begleitumstände berücksichtigt. Sollte es eine harte Strafe seitens des DFB geben, so ist auch zu hinterfragen, warum die Vereine sich das bieten lassen. Man kann nicht auf Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit pfeifen, um dann anschließend die resultierenden Strafen weiterzureichen, zumindest in Fällen, in denen eher Fahrlässigkeit als Vorsatz (wie bei den beiden Bierbecherwürfen) Ursache war.

        • http://lichterkarussell.net Lichterkarussell

          Danke – sehr schöner Kommentar!

  • paul

    ich sehe das mittlerweile nicht mehr als gefährlich an, sondern wünsche mir eine offene konfrontation. wir sind in einem unerträglichen stadium angekommen. das meiste hast du ja schon beschrieben. zusätzlich merke ich immer wieder, dass ich es leid bin den leuten, die angeblich ja seit drölfundvierzig jahren stadiongänger sind die einfachsten dinge zu erläutern, weil sie ihr hirn, so welches vorhanden, am stadioneingang abgeben oder es in die bild/mopo wickeln um dann anschließend das von den medien diktierte „pauliimage“, welches nichts mit der realität zu tun hat, kritiklos weiterzutragen.
    „ey, alter bei pauli gibt es aber sowas nicht, bei pauli ist alles kult und peacig“ dicht gefolgt von der sport1-stammtischparole nummer 1: „das sind gar keine fans, das sind chaoten“
    den gipfel aber (oder eher wohl tatsächlich die spitze) des eisberges bilden im moment die vermehrten rassistischen und homophoben ausfälle am millerntor. dies zeigt, dass ganze scharen von menschen offenbar nichts begriffen haben und letztlich stolz sind zu einem „etwas anderen verein“ zu gehen, ohne überhaupt eine sekunde darüber nachzudenken, was das eigentlich genau bedeutet und wofür es steht. ich will es auch keinem erklären und aufdoktrinieren, was er/sie genau an sankt pauli schätzt und was die motive sind ins stadion zu gehen. ich setze aber ein kleines bisschen nachdenken und reflektion voraus, wenn man sich schon genötigt sieht (meistens auch noch anonym) herumzublöken.
    daher sehe ich das als chance einen bruch zu forcieren und die einzelnen mal zum nachdenken zu bringen. denn brücken bauen möchte ich zu den o.g. menschen am millerntor nicht, solange nicht ein mindestkonsens über bestimmte dinge gewahrt wird, der von mindestens zwei generationen hier sehr hart erkämpft worden ist.

  • sparschaeler

    und selbstverständlich wird ignoriert das auch die mit der „richtigen“ meinung in ihren beiträgen zum teil gnadenlos überzogen haben. es gab in dieser diskussion nicht schwarz und weiß, es gab auch welche mit differenzierten meinungsäußerungen. das der ein oder andere die zwischentöne bewußt oder unbewußt überhörten und alle in die rechtspopulistische schublade gepackt haben ist eine interessante erfahrung.
    nun ist es an der zeit daraus persönliche konsequenzen zu ziehen und das thema abzuhaken. also ich für mich.

    • http://lichterkarussell.net Lichterkarussell

      Ich frage mich ja, ob ich in Zukunft eine Adressatenliste voranstellen soll. Hier wird doch niemand bewusst angesprochen. Ich kann nichts dafür, wenn sich Leute angesprochen fühlen.

      Und wenn Argumentationsschemata der rechten bewusst oder unbewusst übernommen werden, dann muss das auch benannt werden können ohne gleich angekackt zu werden – wobei ich das hier ja nicht mal gemacht habe – einfach weil die Welt eben nicht Schwarz-Weiß ist.

  • http://kleinertod.wordpress.com/ KleinerTod

    Das aktuelle „im blickpunkt“ setzt dem ja noch die Krone auf – der Alte Stamm schreibt: „Bemängelt wurde von uns, daß nach der kaum vergangenen Strafe, die Reaktionen aus der Vereinsführung, relativ human war“ (Ausgabe 6, 2011, S. 15, Originalzitat). Werfer sollten also unmenschliche Sanktionen erfahren, das soll St. Pauli 2011/2012 sein? Ohne mich. Nein, solche Ansichten will ich nicht am Millerntor haben – ich will hier nicht weichen!

    Rassismus, Homophobie, Sexismus und auch andere menschenverachtende / auf „Randgruppen“ bzw. Schwächere losgehende Ansichten dürfen bei uns keinen Platz haben bzw. müssen entschieden verurteilt werden. Wer mittelalterliche Strafmaßnahmen oder ähnliches herbeisehnt, hat einiges nicht verstanden.

    Die Frage ist, wie wir dieses vorhandene Problem angehen.

  • http://www.fcstpaulihafenklang.blog.de rakete

    also dieses selbstherrliche getue mancher st.pauli-fans, die einzig wahre und richtige meinung gepachtet zu haben, geht wiederum mir so langsam auf den zeiger. es gab und gibt auf st.pauli immer andere meinungen, sonst wär auch niemals der punk neben dem banker gegstanden. ich find das gut, dass st.pauli kein homogener haufen ist, sondern z.T. ganz konträre ansichten haben, und dass darüber diskutiert wird. wenn auch nicht immer sehr gepflegt, gefährlich finde ich das überhaupt nicht. gefährlich fände ich eher, wenn sich manche nicht mehr trauen würden, ihre meinung zu sagen und/oder mitzudiskutieren. den untergang der st.paul’schen fankultur jedenfalls seh ich weder aus der einen noch aus der anderen richtung kommen.

    • http://lichterkarussell.net Lichterkarussell

      Ich bin ein großer Fan von Meinungsvielfalt.

      Gefährlich – so wie ich es hier meine – ist es, wenn wir uns so sehr zerstreiten intern, dass wir gegenüber Vereinsführung und den Verbänden zum Spielball werden, weil wir kein Gewicht mehr erzielen, da wir nicht mit geballter Stimme sprechen können.

      Ich sehe keinen bloßen Pluralismus mehr, ich sehe wirklich große Gräben, die unüberwindbar scheinen…

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