Es ist der 16. Februar 2011, der Tag ist ca. 15 Minuten jung und ich schalte das Licht neben meinem Bett aus und klappe den Rechner zu. Ich schlafe so gut wie lange nicht. Als ich am Morgen aufwache erinnere ich mich, dass wir das Derby gewonnen haben. In meinem Traum. 1:2 lautet das Ergebnis – gut damit liege ich lediglich in der Differenz richtig, oder man nimmt Hin- und Rückspiel zusammen, aber das ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Fakt ist, ich habe ein richtig gutes Gefühl.Gefühle sollten diesen 16. Februar prägen. Im Büro den ganzen Tag dieses eine nur schwer zu beschreibende Gefühl, dieses Kribbeln, dass von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute, von Sekunde zu Sekunde stärker wird. Da ist es endlich: Derbyfieber.
Ich versuche das Gefühl einzuordnen und finde schließlich zwei hinlänglich bekannte Gefühle, die zusammen genommen am ehesten an das herankommen, was an diesem Tag meine Konzentration auf die Arbeit fortwährend schwinden lässt. Das erste Gefühl ist das, welches ich hatte als ich am Heiligabend als 4-Jähriger morgens um 5 aufwache und hellwach bin. Alles was ich mir an diesem Tag wünsche ist Abend, ist Bescherung. Nicht mein Lieblingsessen, nicht die leckeren Plätzchen, nicht der Besuch meines besten Freundes können es schaffen, mich in meiner Sehnsucht nach dem heiß ersehnten Zweck dieses Tages abzulenken. Das Ticken der Uhr, das einem Trommelwirbel gleichen sollte, kommt eher wie ein langsam aber stetig tropfender Wasserhahn daher, die Zeit zieht sich wie missratene Mehlschwitze.
GRAUENVOLL!!!!
Das andere Gefühl, dürfte ebenfalls jedem irgendwie bekannt vorkommen, wenn nicht dann wird die Vorstellungskraft aber wohl in etwa reichen. Man ist ca. 12 Jahre alt und steht an einem heißen Sommertag auf dem 5-Meterbrett des örtlichen Freibades. Man hatte all seinen Mut zusammen genommen und ist ohne nach oben oder unten zu gucken die kalten Aluminiumsprossen herauf geklettert. Wenigstens federt der harte 20cm dicke Betonstieg nicht so ekelhaft wie sein kleines Geschwisterchen 2 Meter tiefer, doch die Knie fühlen sich an wie Gummi. Es ist zugig hier oben. An’s Geländer klammernd nickt man bereitwillig dem älteren Jungen zu, als er fragt ob er vor dürfe. Und zu allem Überfluss steht unten das Mädchen, in das man aktuell verliebt ist und man möchte, nein, man muss sie beeindrucken. Langsam geht man an den Rand des Sprungturms und begeht den großen Fehler und guckt nach unten. Durch das klare Chlorwasser sieht der Boden des Beckens fast weiter entfernt aus, als der Mond oder sogar die Sonne von der Erde – das kann man ja gar nicht überleben.
Das ist das zweite Gefühl. Und das was beide Gefühle gemeinsam haben ist, dass sich die Anspannung irgendwann löst. Ersteres durch den unaufhörlichen Fluss der Zeit, zweiteres wenn man entweder gesprungen ist oder gekniffen hat. Beim Heiligabend-Gefühl besteht in der Regel Gewissheit, dass das Event stattfindet, außer das eine Mal, da lief der Weihnachtsmann bloß am Terrassenfenster meines Elternhauses vorbei und klopfte mit der Rute ans Fenster. Das war dann wohl die Derby-Absage. Aber dieses mal gab es Bescherung. Das wusste ich gut 1 Stunde nachdem ich endlich aus dem Büro entfliehen konnte und nach einer kleinen Reise mit Bahnen und Shuttlebus an den Stadtrand im Stadion stand.
Und der Sprungturm? Wir sind gesprungen! Allesamt. Und es gab keinen Bauchklatscher, keine Arschbombe. Gut ein eleganter Salto mit kerzengrader Landung kopfüber sieht anders aus aber am Ende zählt, dass wir gesprungen sind. Jetzt sind wir die Nummer EINS!
Fühlt sich das nicht einfach unfassbar geil an? Habt ihr nicht heute alle dieses einbetoniert anmutende Dauergrinsen gehabt? Nicht das, was man hat, wenn man bekifft ist, nein viel wacher viel aufmerksamer – viel echter!
Drehen wir noch einmal ein paar Stunden zurück. Ich war gegen 18:15 endlich im Stadion und habe nach kurzer Zeit auch ohne Handy (das Netz war tot) meine Bezugsgruppe gefunden. Über der HSV Kurve hing irgend ein Blabla darüber was bei uns alles verkauft sei. Man kommt dort halt nicht damit klar, dass wir es zumindest nicht versäumen um das zu kämpfen, was unseren Club ausmacht, während dort, trotz eigentlich toller Möglichkeiten bzw. Voraussetzungen (Supporters Club) der Zug seit langem abgefahren ist. Geschenkt.
Die Choreo, die dann folgte, war wie zu erwarten aus … na ratet mal? Richtig! Aus Plastik! Die blaue Glitzerfolie hatte optisch zwar einen ganz netten Effekt aber könnt ihr eigentlich nähen am Arsch der Heide? Im Herzen Hamburgs kann man nähen, das sah man anhand 2000 schlichter Braun-Weißer Fahnen, die über alle 3 Ränge des Gästebereichs verteilt ein schönes geschlossenes Fahnenmeer ergaben.
Dennoch frage ich mich, warum um Himmels willen, alle wie wild geworden die Fahnen hochreißen sobald Volkspark-Barde “Lispel-Lotto” seinen Elendssong anstimmt, der einem per Stadionanlage in einer schier unfassbar Ohren betäubenden Lautstärke ins Mittelohr gedrückt wird.
Seit Jahr und Tag wird gepredigt, eine Choreo beim Einlauf der Mannschaften durchzuführen und ihr macht die zum Beginn der Feindeshymne? Habt ihr eigentlich noch alle “Schlachtrufe”-Sampler im Plattenregal?
Noch ein paar Worte zur Choreo der Derbyversager: “Name Geschichte Tradition Erfolge” war in großen Lettern unter dem B-Rang der Nordkurve zu lesen. Liebe Rauten, das ist der Unterschied zwischen euch und uns. Euer Verein ist ein Eventverein. Ihr steht auf Plastikchoreos und ’nen schlechten Schlagersänger auf ’nem Hubkran, ihr seid stolz darauf, offiziell älter zu sein und, das Hamburg in eurem Vereinsnamen vorkommt. Ihr feiert eure Tradition, die ihr schon vor vielen vielen Jahren beim Umzug vom Rothenbaum verraten habt – aber damals gab es euch Fans nicht (es gab Fans aber eben nicht euch ihr wart nichtmal geplant) und ihr hattet gar nicht die Chance irgendetwas zu bewahren. Euer Verein ist die Großraumdisko in der Pampa, wo es bestenfalls eine schlechte Nacht gibt, an die man sich am liebsten gar nicht erinnern will. Unser Verein ist der kleine Punkrock-Gig, bei dem man die Liebe seines Lebens trifft.
Ihr habt es nicht verstanden und ihr werdet es nie verstehen. Es geht um keines der Dinge, die ihr da genannt habt, nicht beim Fußball und nicht im Leben. Es geht um Style, um Gefühl, um Wahrhaftigkeit! Das fehlt euch. Bei euch ist alles aus Plastik, wie eure Choreos. Da könnt ihr noch so viel rumnölen von wegen Modelabel und so weiter – alles was wir derzeit noch haben, worum wir gerade kämpfen, hattet ihr nie, habt ihr nicht und werdet ihr nie haben. Ihr hattet nie die Chance so etwas zu erleben, zu fühlen. Das wolltet ihr aber auch nie. Ihr wolltet immer Event und Plastik. Das ist okay, dass ihr so denkt, das ist euer Ding.
Aber für mich ist das nichts und deshalb seid ihr mir unsympathisch, aber ein bisschen bemitleidenswert seid ihr auch 😉
Vor dem Spiel fiel außerdem auf, dass Bene Pliquett sein Bundesligadebut gegen den HSV feiern durfte. Und jeder wusste, der Typ ist heiß! Trotzdem habe ich prognostiziert, dass er sich entweder die Bude richtig vollhauen lässt oder aber die 0 hält. Er tat Zweites und hat sich damit unsterblich gemacht. Danke Bene! Und ja, er darf nach dem spiel frotzeln, prollen und sticheln! Das ist Derby ihr unverbesserlichen Glücksbärchis!
Um 19:10 wurde dann im Gästeblock gezündet. Ich hätte das anders gemacht, ich hätte die Dinge im kompletten Gästeblock gut verteilt und alles auf einmal beim Tor gezündet. Aber, dass wir gewinnen kann ja wieder keiner außer ich vorhersehen 😀 Ich stehe auf Pyro, das ist irrational, aber rein subjektiv einfach ein unfassbar geiles Stilmittel. Ich halte nichts von unkontrolliertem und andere gefährdenden Pyro-Aktionen, aber ansonsten? Ist doch geil!
Und ich lehne ganz bewusst Diskussionen darüber ab. Ich weiß, dass die Gegner gute und stichhaltige Argumente haben, diese sind mir bewusst. Und sie sind mir egal. Das ist kurzsichtig und egoistisch. Ja na und?! Warum soll ich über ein Thema diskutieren, bei dem ich mit den besten Argumenten nicht zu überzeugen bin, weil meine Meinungsbildung hier so subjektiv ist wie bei sonst fast keinem Thema? Wir können gerne über das “Wie” reden, aber nicht über das “Ob”.
Zu den Bullen sei auch nur kurz erwähnt, dass man natürlich damit rechnen kann, dass das Abbrennen von pyrotechnischen Supportelementen, von einem Polizeieinsatz gefolgt werden kann. Warum aber eine BFE in den A-Rang muss, warum das erst 10 Minuten nach dem letzten Bengalo passiert, warum diese wieder mal wild rumknüppeln müssen… Das alles will, muss und wird sich mir nicht erschließen. Ich will auch hierzu eigentlich keine “Argumente” hören. Natürlich kann ich damit rechnen, natürlich sind die so und natürlich finden die uns scheiße. Das sind für mich alles keine Gründe dem Vorgehen mein subjektives Verständnis zu schenken – im Gegenteil – ich empfinde in Momenten wie diesen Hass, Wut und Aggressionen der Polizei gegenüber.
An dieser Stelle seien dann noch die “Fußballfans sind keine Verbrecher”-Rufe aus der Nordkurve erwähnt. Als noch am Wochenende die Fanszene Mönchengladbachs am Millerntor, den Spaß am Stadionbesuch, durch Behelmte in der Kurve, geschmälert bekam, schallte „Scheiß Polizei“ aus der Südkurve. Ich finde derartige Solidaritätsbekundungen, unabhängig davon, wie sehr ich eine andere Fanszene mag oder eben nicht mag, immer gut. Schließlich nervt mich und uns die Polizei in ihrer Existenz und ihrem Handeln in weit mehr Lebensbereichen als ein Anhänger der einen oder der anderen Raute, oder irgend eines anderen Vereins.
Wo wir gerade bei Mönchengladbach sind, so kann man mit Fug und Recht behaupten, dass wir den Schwung der zweiten Halbzeit des Gladbachspiels nicht mit in die erste Halbzeit des Derbys nehmen konnten. Der HSV war die klar dominierende Mannschaft, bzw. die Höhe des Sprungturms hat unsere Jungs dann doch stark verunsichert. Fehlpässe und Ungenauigkeiten prägten unser Spiel, so es denn stattfand. Als sich dann nach gut einer Stunde doch endlich die Möglichkeit ergab, den Sprung zu wagen, landete Asa nach toller Vorlage von Boll einen schönen Köpper und nach kurzer braun-weißer Glückseligkeit begann das große Bangen.
Der Rest ist Geschichte. Unzählige Umarmungen, Küsse, Freudentränen. Ein Marsch mit 2000 Sankt Paulianern von Mordor bis Othmarschen (Jaja ist beides in Mittelerde) gekrönt von fassungslos freudigem Gefeiere am Jolly und auf der Budapester Straße.
Meine Absätze werden immer kürzer, ich habe definitiv ganz viele Facetten dieses einmaligen Tages vergessen, aber es ist wohl auch unmöglich all das, was es zu fühlen und zu erleben gab wiederzugeben. Es gab am 16. Februar keine Rute für uns, keinen roten Bauch und keine geplatzte Badehose. Es war eine schöne Bescherung und der Sprung hat sich gelohnt.
Achja und die Überschrift? Stimmt die passt überhaupt nicht zum Text, aber die stand seit gestern Abend auf dem Marsch fest. Schönen Gruß an all die großkotzigen HSVer, die von diesen sechs sicheren Punkten einen haben, von dem Sie sich wohl nicht viel kaufen können.
Oh Hamburg deine Perle…
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