oder “Lieber Funktionsjackenträger, auf ein Wort”
Prolog
Zusammen mit Norbert von magischerfc.de habe ich vor einiger Zeit zusammen gesessen und überlegt eine Diskussion im Web 2.0 anzustoßen, die sich dann möglichst auch in das reale Zusammenleben überträgt. Eine Diskussion die in kleinen Bezugsgruppen, Fanclubs, Zusammenschlüssen und im Zwiegespräch einzelner aufgegriffen und fortgeführt werden soll. Ein Diskussion über Fankultur am Millerntor. Über das was war, das was ist aber vor Allem das was sein soll und wie man da hin kommt.
St. Pauli ist eine der innovativsten Fanszenen der Welt. Der einzigartige Ruf des Vereines und seiner Anhänger ist in den 80er und 90er Jahren aus dem Nichts geschaffen worden und von der Fanszene begründet worden. St. Pauli war damals Vorreiter und Vorbild vieler neuer Entwicklungen in Deutschland und in der Welt. Und heute? Wie ist eigentlich der Stand?
Kritik an einzelnen Verhaltensweisen in konstruktive Ideen umwandeln, Begeisterung schaffen, Diskussionen zu führen, dies sind die Ziele. Wie ist der Status Quo? Wo wollen wir hin? Was ist Toleranz? Was ist die Grundlinie?
So lauten die ersten Absätze der Anfrage, die wir an diverse Blogs, die sich auf verschiedenste Weisen mit unserem FCSP auseinandersetzen. Gewissermaßen, wenngleich unabhängig davon entstanden, kann man dieses Bloggerprojekt als konsequente Fortsetzung des Aktionstages “Warum bist du bei Sankt Pauli” begreifen. Darüber hinaus sehe ich auch einen Zusammenhang zur “Bring Back Sankt Pauli”-Bewegung, denn nicht nur die Vereinsführung und die von ihr vereinbarten Marketing-Auswüchse, sondern auch die mich im Stadion umgebenden Menschen bzw. deren Verhalten prägen mein Sankt Pauli entweder positiv oder negativ. Ich denke zwar, dass das Biotop die Lebewesen beheimatet, denen es einen Lebensraum bietet, aber es gehören eben auch die Lebewesen dazu, die andere Lebewesen in ihrem Biotop dulden. Und auch wenn ich mein Biotop zusehends als unwirtliche Umgebung wahrnehme und sich Lebewesen dort einnisten, die mit der neuen Umgebung weit besser klar kommen, möchte ich mir nicht nehmen lassen, deren natürlicher Feind zu sein, denn das ist immer noch mein Biotop.
(Für die Metapher-Legastheniker: Biotop = Stadion & Vereinsumfeld, Lebewesen = Fan-Verhalten)
Um eine gewisse Vergleichbarkeit zu erreichen, haben wir uns darauf geeinigt mit einer Bestandsaufnahme zu beginnen um darauf dann die Kritik, die Ziele und Ideen aufzubauen. Dies soweit als Prolog. Wühlen wir uns durch den Problem-Kompost.
Zur Bestandsaufnahme
Bevor ich schreibe was jetzt ist, sollte dieser Text in meinen Augen damit beginnen, klar zu stellen, was nie war. Sankt Pauli war zum Beispiel nie gewaltfrei. Wer sich mal ein wenig mit der Besetzung der Hafenstraße auseinander setzt, wird, ohne in der Zeit dort oder allgemein bei Sankt Pauli dabei gewesen zu sein, so nicht komplette Verblendung vorherrscht, schnell zu dem Schluss kommen, dass es sich bei den Hausbesetzern der 80er Jahre mit Nichten um einen Haufen Pazifisten handelte. Nein man wusste damals durchaus physische Argumente einzusetzen, sei dies gegen Nazis oder gegen Bullen. Wie wahrscheinlich nicht jedem Stadionbesucher bekannt ist, aber eigentlich sein sollte, sind es unter anderem diese jungen Menschen gewesen, die ab Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts die Fankultur beim FC St. Pauli dahingehend prägten, als was sie heute verkauft wird. Antifaschistisch, revolutionär, rebellisch, usw. und da wurden dann halt die stolzen Volksdeutschen, die sich zu dieser Zeit auch am Millerntor finden ließen, so sie nicht freiwillig des Feld räumten (vielleicht, hoffentlich ja auch trotzdem), mit körperlichen Verweisen von den Stufen des Stadions vertrieben. Nur durch die unermüdliche Beharrlichkeit dieser neuen Fans konnte auf Sankt Pauli das geformt werden, was heute als selbstverständlich angesehen wird.
Nun denn, ich hatte ja schon vor einigen Tagen im Zuge des Aktionstages der aktiven Fan-Szene “Warum bist du bei Sankt Pauli” darüber geschrieben, wie ich meine ersten Millerntorbesuche erlebte. Jetzt soll es unter anderem darum gehen, wie ich meine Besuche in unserem Stadion heute erlebe. Vorweg sei noch gesagt, dass ich mich sehr gerne und häufig über Dinge aufrege und mir davon auch des öfteren gehörig die Laune verhageln lasse. Ich will versuchen derartige Aspekte in meiner Betrachtung auszuklammern. Ferner ist meine Sicht eine Südkurven-Sicht. Was auf anderen Tribünen passiert, kann ich nur durch sehr sehr sporadische Besuche, Erzählungen und externe Beobachtungen schildern.
Gewalt, Prollen, Habitus
Fangen wir doch in unserer Selbstreflexion mit dem bereits angeschnittenen Thema, der Gewalt und den dazugehörigen Begleitumständen an. Dem “typischen Funktionsjackenträger”, also all jene Menschen, die mich im steten Appell an die Vernunft an meinen Vater erinnern, sind die jungen Menschen, die sich Funktionsjacken vornehmlich in der Farbe Schwarz kaufen, in der Regel mindestens suspekt. Der “typische Funktionsjackenträger” ist im Stadion, so glaube oder hoffe ich, aber in der Minderheit, dafür hupt er im Internet, sei es in der Kommentarspalte von Mopo Online oder dem Sankt Pauli Forum um so lauter rum. Ja ich weiß, das sind dumme Vermutungen und so weiter und so fort, aber irgendwie muss man ja in die Thematik einsteigen und bestenfalls ist in deinem Kopf, liebe Leserin/lieber Leser, jetzt ein erstes Bild vorhanden, ein Bild von der Vielschichtigkeit der möglichen Betrachtungsweisen auf unseren Verein. Die Menschen, die sich stets über zunehmende und ausufernde Gewaltexzesse der verkommenen Jugend beschweren, hängen dies in der Regel, an Einzelfällen auf und wie schon eingangs erwähnt wäre es verlogen diese wegdiskutieren zu wollen. Klar gibt es Gewalt! Die Frage aber ist doch, ob sich über die letzten Jahre ein Gewaltproblem herauskristallisiert hat.
Diese Frage zu bewerten ist nicht so einfach. Zuerst einmal muss die Ausgangslage klar sein und meine Ausgangslage ist: Nicht immer ist Gewalt ein Problem. Gewalt kann auch manchmal verdammt richtig sein, wenn ein Nazi auf die Fresse bekommt, dann finde ich das prinzipiell pauschal richtig. Eine Freundin von mir würde jetzt einwenden, dass man damit ja nichts ändert und vielleicht hat sie ja auch Recht damit, aber da bin ich irrational. Und wenn Fanszene X-Y zu einem unserer Läden kommt, sei das Jolly Roger, Fanladen oder irgendwas anderes, dann wünsche ich mir nicht das wir auch brav alle unsere beiden Wangen hinhalten oder uns so lange verprügeln lassen, bis die bösen Menschen keinen Spaß mehr an ihrem bösen Spiel haben. Genauso wenig möchte ich das alle wegrennen wie von der Tarantel gestochen. Ich bin selber auch kein allzu großer Freund von solchen Ereignissen und könnte gut darauf verzichten, aber es wäre durchaus hilfreich, wenn in einem solchen Fall alle zusammen stehen bleiben. Die, die Bock haben oder das einfach können gehen dann nach vorne, die, die aus welchen Gründen auch immer auf die direkte Auseinandersetzung bestenfalls verzichten möchten, bleiben hinten. In dem Fall ist man dann gut aufgestellt, und dürfte mit den Angreifern für ein paar Minuten gut klar kommen und dann sind sowieso die Bullen da, ob man das jetzt will oder nicht.
Derzeit, und wir hatten diese Saison oft genug Besuch am Jolly und auch an anderen Ecken im Viertel gab es das eine oder andere non-verbale Plenum mit anderen Fans, ist die Situation aber doch so, dass viele weglaufen und wenige im Stich lassen und zur Krönung laufen noch gefühlt die Hälfte derer, die sonst die Fresse immer ganz weit aufreißen mit weg, wenn es ernst wird. Was für ein Scheiß. Aber damit ist dann eigentlich auch abgesteckt, in welchen Situationen ich Gewaltanwendung prinzipiell erst mal gutheißen kann, also Nazis wegmachen und Verteidigung.
Es gab Zeiten, etwa die Zeiten, als sich in Italien Ultrà entwickelte, da entwickelte sich eine neue gewalttätige Fußballkultur, dort, was man immer als Mutterland dieses Sports sieht, in England. Die Hooligans begannen ihr zu Hause auf den Stehtraversen der Stadien zu finden und es gab Kämpfe in den Stadien. Fans hauten sich gegenseitig auf die Ömme für ihren Verein. Ich möchte an dieser Stelle keine Abhandlung über Hooliganismus schreiben, dafür fehlt mir hier zum Einen der Platz und zum Anderen und viel Wichtigeren die dahingehende Erfahrung, auf die ich aber auch nicht sonderlich viel Wert lege. Fakt ist aber, im Stadion knallt es heutzutage nur noch außerordentlich selten, also quasi nie und wenn es knallt, dann in der Regel mit Team Green.
Fakt ist aber auch, dass es beim FCSP auch Menschen gibt, die sich durchaus als Hooligan definieren. Die gab es auch früher und es ist mir auch herzlich egal ob sich Leute in verabredeten Dingern irgendwo, fernab jeden Interesses “für ihren Verein grade machen”. Nur: Wenn sich aus diesen Menschen eine Gruppe formiert, dann trägt diese Gruppe ein gewisses Maß an Verantwortung, und dann geht es überhaupt nicht klar, wenn junge Menschen, die in anderen Strukturen nicht oder nicht so schnell Anschluss finden, sich versuchen über die Gewaltebene zu profilieren. Derartige Denkweisen, sind wie man so schön sagt, “nicht mein Pauli”. Ich will niemandem seinen Spaß daran nehmen lassen, sich von 2,20 Meter großen und mit Anabolika aufgepumpten Koksochsen verprügeln zu lassen, aber ich wünsche mir von denen mit diesem Fetisch ein wenig mehr Lockerheit. Kein zwanghaftes Profiliere, kein Rumgepose. Ich wünsche mir, dass nicht jeder Öddel sofort erkennt, dass es da eine Gruppe gibt, wo man für “ein Ründchen locker boxen” Anerkennung findet, denn das führt ganz schnell zu einer Entwicklung auf den Stufen, unseres Stadions in eine Richtung, die dem was ich mir vorstelle gar konträr gegenüber steht.
Aktuell geht dies in meinen Augen immer einher mit mackerhaftem Rumgeprolle, quasi dem Wettkampf darum, wer die dicksten aller dicken Eier hat. Und ich glaube das ist das, was die (da sind sie wieder) “typischen Funktionsjackenträger” teilweise meinen, wenn sie sagen, man lasse die “Sankt Pauli Selbstironie” vermissen. Das führt uns zum, in der Unterüberschrift angekündigten, Habitus. Ich habe kein Bock auf Leute, die meinen ständig den Dicken machen zu müssen. Versteht mich nicht falsch, Fußball und Prollen gehört für mich untrennbar zusammen. Das habe ich ja auch schon an anderer Stelle des Öfteren geäußert, aber ich wünsche mir da von jedem Einzelnen teilweise weit mehr Weitsicht. Es macht halt manchmal keinen Sinn rumzuprollen und in mancher Situation ist es einfach auch gar nicht nötig, der Gegenseite derart viel Aufmerksamkeit zu schenken, um nicht zu sagen, es sollte manches Mal unter unserem Niveau sein.
Ultrà-Kultur
Und wir kommen in diesem Zuge auch zu Ultrà, denn gerade durch die undefinierte Submasse, aka “Umfeld” werden die Grenzen diesbezüglich fließend, womit ich jedoch keineswegs Ultrà und Hooligan gleichsetzen möchte. Vielmehr ist jedoch die Prollo-Komponente eben eine, die heutzutage in beiden Kontexten durchaus vergleichbare Ausprägungen findet.
Die Ultrà-Kultur, in unserem Fall dankenswerter Weise verkörpert durch USP, ist am Millerntor dieser Zeit, defintiv die Takt angebende Masse. Vielleicht trete ich damit jetzt dem Einen oder Anderen alteingestandenen Gegengradler auf den Studentenschlips (Ha! Schön viele Klischees), aber es ist doch so, dass nur USP es ist die in größtem Maße die Fahne beispielsweise in Sachen Politik und auch Stimmung hochhalten. Dass man über die Art der Stimmung geteilter Meinung sein kann ist hierbei völlig irrelevant, es geht lediglich um die Lautstärke oder eher Wahrnehmbarkeit und das ganz ohne auch nur einen anderen Zusammenhang aktiver Fans im Stadion zu diskreditieren. Es fand und findet immer noch ein Generationenwechsel im Stadion statt, und wenn eine Gruppierung oder Bewegung dieser Tage Zulauf findet, dann ist es USP respektive Ultrà. Das Wachstumspotential ist hier am größten. Das birgt eine große Chance, die aber ebenso große Verantwortung und eine große Bürde mit sich bringt.
Gerade durch die neue Südkurve und dem damit verbundenen Konzept, das ja nun zeitweilig ausgesetzt ist, ist eine große Masse junger Menschen zum FCSP gekommen, die Bock hatten bzw. haben auf Ultrà bei Sankt Pauli. Oder hatte man lediglich Bock auf Ultrà. Ich bin an dieser Stelle mal wieder beinahe geneigt, moderne Medien zu verteufeln. Die Journalie hat das Thema irgendwann für sich entdeckt und in Verbindung mit Youtube und Co. kann sich ein junger Mensch schnell ein Bild von Ultrà zeichnen, das nicht der klassischen Mentalita (um Mal im themenspezifischen Jargon zu verweilen) von USP, wie ich die Gruppe immer wahrgenommen habe, entspricht. Ultrà-Deutschland definiert sich etwas verkürzt hauptsächlich über die “Wir sind die geilsten” Schiene. Und auch hier muss ich wieder darum bitten, nicht falsch verstanden zu werden, ist es doch unter anderem ein gewisser Reiz, nach höher, besser, größer, weiter, bunter, heller, strahlender, usw. zu streben, sprich die beste Szene sein zu wollen. Das kann ein Anreiz sein, den nötigen Auftrieb geben. Alles Prima. Nur eine Limitierung der Selbstdefinition, und nichts anderes tut die deutsche Ultrà Landschaft, auf eben dieses Fragment führt in eine Sackgasse. Ich beobachte eine sich immer weiter drehende Gewaltspirale, eine Kultur, die sich vielerorts nur über die Menge abgezogener Devotionalien definiert und Gruppen deren Hauerfraktion scheinbar proportional zur sinkenden Mitmachquote im Stadion wächst.
All dies haben wir bei uns nicht, bzw. lange nicht in diesem Umfang. Aber es gibt durchaus Menschen die mittlerweile zu Sankt Pauli kommen, mit eben genau dieser Erwartungshaltung. Sie erwarten eine Ultrà-Kultur, die die Klaviatur der anderen Ultras in Deutschland mitspielen. Hier ist es die Aufgabe von USP, diese Kids, um es mal etwas salopper auszudrücken, einzunorden. Ich wünsche mir, dass die Ultras bei Sankt Pauli in vielerlei Hinsicht, aus dem Einheitsbrei anderer Szenen hervorstechen. Sei es durch die Auswahl der Gesänge, durch die Art der Choreos, durch das Selbstverständnis, uvm.
Ich möchte keine Hippie-Ultras. Ultrà bedeutet auch immer Radikalität und genau diese ist auch enorm wichtig, lieber “typischer Funktionsjackenträger”, ohne sie wärest du heute kein Sankt Pauli Fan! Ich möchte aber auch keine hohlen Kampfmutanten.
USP erfüllt schon oder noch(?) viele meiner Hoffnungen und Wünsche an Ultrà bei Sankt Pauli. Ich wünsche mir noch weniger Mitspielen der deutschen Ultrà-Klaviatur und noch oder wieder (?) mehr eigenes, neues, kreatives. Ich hoffe aber besonders in Hinblick auf den Habitus, können einige Leute in den Genuss dieser Worte kommen und sich selbst reflektierend hinterfragen. Auch hoffe ich, dass unser Projekt vielleicht auch bei USP diskutiert und einige Ansätze und Gedanken aufgegriffen werden.
Pyromanie
Die thematische Aufsplittung eines komplexen Zusammenhangs wie den Problemfeldern einer Fanschaft, erhöht sicherlich die Übersichtlichkeit, birgt aber auch die Gefahr von kleineren Wiederholungen. Sei es drum, ich werde mich jetzt wiederholen. Ich hasse übermäßiges und dummes Rumgeprolle und ich liebe emotionale und leidenschaftliche Fankultur. Pyrotechnik ist für mich dabei eines der vielen Stil-Elemente, die eben mit Fußball verbundenen Emotionen auszuleben. Es wäre gelogen, behauptete ich, Pyro würde ich dabei nicht eine gewisse Bedeutung zumessen. Ich stehe da ganz irrational einfach drauf. Ich habe aber ja schon des Öfteren meiner Leserschaft eine dedizierte Auseinandersetzung mit diesem Thema schuldig und vertröstete auf einen Text X. Dieser Text X sei dieser, denn wo würde es besser passen, als in diesem Zusammenhang, wo Pyro doch eine der großen Streitfragen in unserer Fanszene ist.
Wenn aktuell, ob bei uns oder in einem beliebigen Stadion einer der 3 Profi-Ligen gezündet wird, geht das immer einher mit vermummtem Auftreten, was natürlich mitunter am Verbot des Einsatzes dieses Stilmittels liegt, aber eben auch immer eine aggressive Stimmung vermittelt. Gerade weil eben dann dazu auch noch am oder auf dem Zaun rumgepost und wild gestikuliert wird. Ich wünsche mir da aber viel mehr den Einsatz von Pyrotechnik mit der Coolness beim Einsatz von Fahnen. Nicht so herumschwenken, aber im Sinne der Unaufgeregtheit und Selbstverständlichkeit. Pyro habe ich Deutschland immer nur als Mittel “den Dicken” zu machen erlebt, nie als Ausdruck der Emotion in der Kurve. Klar können Emotionen auch wütend sein, aber vornehmlich geht man ja nicht ins Stadion um schlecht gelaunt zu Zünden, sondern der Stadionbesuch soll auch immer den Selbstzweck Spaß erfüllen und genau mit diesem Spaß sollte Pyro in meinen Augen eingesetzt werden. Ich bin mir sicher, viele die Pyro als unangebracht empfinden, könnten damit schon weitaus besser leben.
Ein derartiger Einsatz von Pyrotechnik ist aber nur möglich, wenn der Einsatz legal ist. Hier kommen jetzt die guten Argumente der Pyrogegner bzw. -kritiker zum tragen. Eine Verbrennung, hervorgerufen durch einen Bengalo oder einen fallengelassenen Breslauer, ist keinesfalls witzig, sondern im Gegenteil sehr ernst und dementsprechend sollte die Gefahr auch ernst genommen werden. Gegen potentielle Atemwegsverletzungen durch den Qualm wird mir wohl keine tolle Lösung einfallen, ich halte diesen Punkt aber auch für weniger beachtenswert, da ich die Gefahr als weitaus kleiner einstufe. Es muss Aufgabe der Fans sein in Zusammenarbeit mit den Vereinen Wege zu erarbeiten, wie ein legales und sicheres Abbrennen von Pyrotechnik zu ermöglichen sein kann. Auch wenn jetzt, einige sagen werden, dass eben auch das Verbotene und Unangepasste beim Zünden, den gewissen Reiz ausmacht, dann bleibt mir nur der Hinweis auf den Status Quo. Die Fälle FCSP-BMG, Rauten-FCSP, FCSP-96 haben in ihrer nahezu direkten Kontinuität gezeigt, dass, wer heute zündet, mit seiner Einzelentscheidung einen ganzen Block einer Gefahr aussetzt, die die Gefahren von Pyro bei weitem übersteigt. Der guten Ordnung halber, weise ich darauf hin, dass ich nichts beschissener finde, als Bullen im Block. Mich kotzt ja schon an, dass die Schergen überhaupt im Stadion sein dürfen, aber im Block haben die nun wirklich rein gar nichts verloren. Nur muss man eben auch sehen, dass die Bullen bei Pyro nur dann reingehen DÜRFEN, wenn der gastgebende Verein dies anordnet. Und mir scheint, so lange die Vereine die Strafen für das Zünden zu tragen haben, die Ordnungsdienste der Lage auch nicht Herr werden können oder wollen (wobei die das ja im Sinne der Zündenden auch nicht sollen), werden die Vereine die Bullen scheinbar rein schicken.
Unter diesen Umständen sollte man es sich mehr als zwei Mal überlegen, ob man zündet. Man kann es natürlich ausprobieren wie weit das Spielchen zu treiben ist, wie weit man die Situation eskalieren kann – vielleicht gewinnt man ja. Aber in der eigenen Fanszene wird man vermutlich einen Haufen Leute verlieren und wie hoch die Chance ist gegen Vereine, Verbände und Bullen dieses Spiel zu gewinnen vermag ich nicht zu beurteilen. Ich halte daher den Versuch, Wege zur Legalisierung zu suchen, für Erfolg versprechender. Sankt Pauli sehe ich hier potentiell in einer Vorreiterrolle. Das Netzwerk zur Legalisierung von Pyro, das nach dem österreichischen Vorbild gegründet wurde, ist für mich in keinem Fall eine Alternative. Schon eine partizipierende politisch fragwürdige Gruppierung wäre eine zu viel und da gibt es die haufenweise. Warum also nicht zusammen mit dem Verein etwas Eigenes erarbeiten und versuchen, die DFL vom Konzept zumindest probeweise zu überzeugen. Das wie bleibt dann nach dem ob zu diskutieren, Möglichkeiten, da bin ich mir sicher, gibt es aber diverse.
Ganz Hamburg hasst die Polizei
In diesem Kontext kann man auch noch einmal Bezug nehmen auf das Verhalten gegenüber den Bullenschweinen. Die Bullen sind scheiße, das kann man ihnen auch ruhig des öfteren klar und unmissverständlich mitteilen oder zeigen. Nur sollte man sich in der Interaktion mit diesem Staatsorgan durchaus mit einer gewissen Weitsicht verhalten. Die Bullen sind nun einmal (fast) immer da, aber manchmal, auch wenn das schwer zu glauben ist, machen sie halt erstmal nichts und dann ist es, so glaube ich, kontraproduktiv beim ersten Sichtkontakt direkt herum zu pöbeln.
Ich wünsche mir, dass den Schergen entschlossen entgegen getreten wird, wenn sie sich Fans oder anderen gegenüber scheiße verhalten. Dann ist Solidarität angesagt und kann eine Waffe sein. Aber in Momenten wo gar nichts los ist, wünsche ich mir, dass die Polizei einfach links liegen gelassen wird. Das erspart manchen unnötigen Ärger.
Sankt Pauli Fans gegen Rechts
Ein weiteres Problem der Gliederung ist, dass man geradezu genötigt ist, in einigen Thematiken zu springen, bzw. einige Aspekte wieder aufzugreifen. Ich weiß nicht genau wie das auf den anderen Tribünen ist, mir ist wie gesagt die Süd-Perspektive am nächsten, aber ich glaube dass das in diesem Absatz beschriebene Phänomen, mit teils gleichen teils anderen Ursachen auch auf den anderen Tribünen zu finden ist. Ich vermute, dass meine Vorstellung hinsichtlich dieses Themenbereichs etwas sehr idealistisch sind, aber hätte ich nicht eine gewisse Idee von der Fan-Szene “meines Paulis” , hätte ich mir dieses Projekt zusammen mit Norbert wohl weder ausgedacht, noch mir die Mühe gemacht, meine Gedanken hier derart ausführlich zu virtuellem Papier zu bringen. Wie dem auch sei, ich wünsche mir eine politische Fanszene bei meinem FCSP und mit politisch meine ich mehr als die bloße Bekenntnis, Nazis scheiße zu finden. Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit und Grundvorraussetzung von mir überhaupt irgendwie ernst genommen zu werden. Wer Naziideologie nicht vollends verabscheut, dem spreche ich den allseits bekannten gesunden Menschenverstand ab. Nein politische Fanszene, bedeutet für mich, dass sich die Fans kritisch mit politischen und sozialen Thematiken auseinander setzen und sich wenn es nötig oder angebracht scheint auch dementsprechend positionieren. Ich wünsche mir eine linke Fanszene, in der diskutiert wird. Viel zu häufig hinkt, so scheint mir, der eigene Anspruch der Realität hinterher. Viel zu wenig leute, haben überhaupt ein politisches Interesse. Wieviele Leute im Stadion sind links? 2000 wären schon viel. Aber ich will das 10-Fache davon ;-). Ich finde die Zustände der Welt unerträglich und ich fühl mich beim FCSP so unheimlich wohl, weil es hier Menschen gibt, die dieses Empfinden mit mir teilen, denen es genau so geht, die man kennenlernt und irgendwann in der Nacht beim x-ten Bier fragt der Gegenüber: “Digger, sach mal, wie machen wir das jetzt mit der Revolution?”
Darauf hab ich Bock und davon will ich mehr! Wer da Lösungsvorschläge hat, ich bin höchst offen dafür 😉
Anspruch, Haltung, Kommerz
In eine ähnliche Kerbe schlage ich bei diesem Thema. Ich bin vielleicht ein wenig frustriert, weil der Jolly Rouge nicht so viel erreicht hat, wie er in meinen Augen hätte erreichen können und weil er längst nicht mehr die Kraft hat, die er anfangs hatte. Erreicht wurde, dass die Vermarktung und das Präsidium mit jedem Scheiß beim Fanladen und STFA aufkreuzen und fragen, ob das so ginge. Ein Herr Meeske hatte vor dieser Petition weit mehr Freiheiten als heute.
Mir persönlich reicht das ehrlich gesagt nicht wirklich. Ich hätte gerne mehr aus der Energie geschöpft. Gerne mehr Druck gemacht, gerne radikaler protestiert. Aber das Präsidium hat das klug gemacht. Ich sehe, wenn nicht zufällig doch irgendwie ein krasser Fehltritt durchrutscht und passiert, die Erfolgschancen etwas wirklich radikal zu ändern, zumindest in diesem Zuge, für vertan an. Tja ich wünsche mir eine radikale Fanszene, lieber “typischer Funktionsjackenträger”, eine Fanszene deren schwarze Funktionsjacken, ihre Funktion hauptsächlich auf Demos unter Beweis stellen. Eine Fanszene, die sich nicht mit Kompromissen abspeisen lässt, denn so gerne du den Kompromiss als das beste für alle Beteiligten darstellst, du liegst falsch! Der Kompromiss ist scheiße, für alle. Dann doch lieber nur scheiße für die anderen und Milch und Honig für mich und meine Gleichgesinnten.
Ernsthaft Leute, ich wünsche mir vielmals etwas weniger Rücksichtname. Manchmal muss muss eine Minderheit auch einer Mehrheit vor den Kopf stoßen und Überzeugungen einfach durchdrücken. Anders ist Sankt Pauli doch auch nicht zu dem geworden, was es ist. Warum soll man damit aufhören, was sich einst bewährt hat? Das stete Taktiere und Gegucke möglichst alle mitnehmen zu können, nervt und bremst aus.
Als Sankt Pauli Fan geht es mir in erster Linie nicht um den sportlichen Erfolg, wollte ich diesen, wäre ich wohl Bayern-Fan. Klar will ich immer gewinnen aber vor allem gehe ich zum FC Sankt Pauli weil ich erst einmal puren Fußball (in angenehmer und (links-)politischer Atmosphäre) will und den bekomme ich in dieser Qualität nur am Millerntor. Nur hier habe ich noch klassische Atmosphäre im Profifußball. Auch hier hat mittlerweile Kommerz Einzug gehalten aber eben noch nicht in einem Maße, wie das beispielsweise auf Schalke der Fall ist. Der Anspruch der Sankt Pauli Fans ist eben nicht nur hauptsache gewinnen, sondern auch das eigene Erlebnis als das zu wahren, was man liebt und schätzt. Darum hinterfragen wir Entwicklungen kritisch und deshalb konnte die Petition der Sozialromantiker so vielen Fans aus der Seele sprechen.
Ich möchte aber als Fan vom FC Sankt Pauli noch weiter gehen. Ich möchte eigene und neue und vor allem andere Wege der Vermarktung einschlagen. Wege beschreiten die noch keiner vorher gegangen ist. Da muss man eventuell auch mal etwas Wagen und vielleicht verrennt man sich bei dem Versuch auch mal in die eine oder andere Sackgasse. Dann muss man eben zurück und einen anderen Weg suchen. Dies kann nur dann geschehen, wenn man dem sportlichen Erfolg eine nachgestellte Bedeutung zuschreibt. Was bringt mir denn der Erfolg, wenn ich mich am Ende nicht mehr wohl fühle. Bestenfalls funktioniert es auf Anhieb beides zu vereinen, doch wenn nicht, dann darf das kein Ausschlusskriterium für neue Wege in der Vermarktung sein. Die UFA Sports übrigens ist scheiße und muss weg. Das hat nichts mit Professionalität zu tun, sondern ist nicht mehr als ein selbst aufgezwungenes Korsett.
Zuschauerstruktur und Toleranz
Sankt Pauli ist mein “Happy Place”, es ist für mich ein stets neu zu erkämpfender Freiraum. Das gilt sowohl für die Thematik der politischen Fanszene als auch für alle anderen angesprochenen Problematiken. Beim FC St. Pauli sollen sich alle wohl fühlen können. Wir sind eine tolerante Fanszene, aber wir dulden nicht jeden scheiß. Wenn ich beispielsweise erfahre, dass Frauen in unseren Kurven bepöbelt oder begrabscht werden, platzt mir die Hutschnur. Solche Leute gehören nicht in meinen Freiraum, sondern bedrohen diesen. Da brauche ich niemandem Toleranz entgegenbringen sondern nichts als geballte Ablehnung. Ich möchte, dass solchen Menschen ganz schnell klar wird, wie falsch, wie unerwünscht sie am Millerntor sind. Raus! Gleiches gilt natürlich für all jene die immer mal wieder durch rassistische, homophobe oder sexistische und jegliche andere diskriminierende Äußerungen auffallen. Ansage und weg sonst ein paar auffen Kopp bis es weh tut. Ihr seid hier FALSCH! Ich erwarte da von allen Fans, dafür ein Gespür zu entwickeln und bei derartigen Vorfällen dagegen an zu gehen.
Ich muss auch nicht tolerant gegenüber den Pissnelken sein, die Sankt Pauli nicht verstehen und das zeigen in dem sie ihre Plätze frühzeitig verlassen. Das missfällt mir. Da pöbel ich rum. Schert euch sonst wohin oder fangt an zu verstehen, was es bedeutet Zuschauer am Millerntor zu sein.
Ein Freiraum bleibt nur so lange ein Freiraum, wie man ihn verteidigt, denn Freiräume braucht es nur, weil die Welt sehr scheiße ist. Und weil die Welt eben so scheiße ist erkämpft man sich Freiräume, die gibt es ja nicht von alleine. Der Freiraum Millerntor wurde einst erkämpft und es ist unsere Aufgabe ihn als diesen zu erhalten. Die böse Welt hat daran jedenfalls kein Interesse. Wir haben eines – sollten wir zumindest – ich habe eines.
Ich schreib das ins Forum
Als ich mich gestern daran machte, diesen Text hier weiter zu schreiben und über die Baustellen nachdachte, die wir hier so haben und an akuter Schreibblockade litt, twitterte ich, unser einziges Problem sei das Forum. “#Abschalten” passe derzeit in vielerlei Hinsicht, antworte mir der twitter account vom Übersteiger und so manches Mal, wenn es in unser aller heiß geliebten Forum so richtig heiß her geht, wäre das wohl die einzig richtige Entscheidung. Würden doch bloß nicht die vielen Vorteile der Vernetzung so schwer wiegen, hätte man das wohl schon längst getan. Im Übersteiger erschien mal eine kleine Abhandlung darüber, das früher eben nicht alles besser war, aber eben dieser teils nützliche, teils aber auch sehr nervige Multiplikator-Effekt des Internets ausblieb. Lieber “typischer Funktionsjackenträger”, bitte bitte bitte höre auf, immer dann wenn du dich über irgendeine nichtige Kleinigkeit aufregst, dich an deinen Computer zu setzen und im Forum nach Zustimmung zu suchen. Ich bin diese unsäglichen Diskussionen leid. Wieso gehst du nicht einfach in deine Eck-Kneipe, trinkst nen Korn und heulst dich ne Runde beim Wirt aus? Oder macht der “typische Funktionsjackenträger” das nicht? Dann geh wandern, Rad fahren, Squash spielen, mit deinem Köter ne Runde Gassi oder kauf deinen Kindern nen Eis. Unser aller Leben ist zu kurz für derartige Diskussionen, die irrational und endlos geführt werden, bis irgendein anderes Thema von größerem Interesse ist.
Das Ganze mag ja ein schöner Zeitvertreib und bisweilen gar unterhaltsam sein. Stelle ich nicht in Abrede, geht mir genau so, aber manchen Quatsch kann man sich durchaus klemmen. 130 Seiten blablabla sind 130 Seiten zu viel.
Fazit
Sankt Pauli ist toll. Viel toller als andere Vereine. Sankt Pauli wird durch seine Fans ausgemacht, die auch viel toller sind als andere Fans, teilweise zumindest. Sankt Pauli ist so toll, weil es mal Menschen gab, die es gewagt haben auf einige Umstände zu scheißen und unkonventionelle Wege zu gehen. Weil diese Menschen gewisse Werte nicht nur als bloße Worthülsen vertreten haben, sondern sie offensiv verteidigt haben. Diese Menschen haben Sankt Pauli zu einem Alleinstellungsmerkmal verholfen, das heute zwar gerne vermarktet wird, aber längst nicht von allen gelebt. Wurde es früher sicherlich auch nicht und wird es auch nie werden. Dennoch muss es die Aufgabe aller Generationen am Millerntor sein, diese Werte genauso offensiv zu vertreten wie dies vor 25 Jahren geschah und genauso kreativ zu sein und keine Scheu zu haben auch einmal unkonventionelle Wege zu gehen.
Lasst uns gucken was andere gut machen und was andere schlecht machen. Lasst uns dann aus dem Guten für uns gute Dinge schöpfen, nicht kopieren, nur inspirieren lassen. Lasst uns gucken was wir gut und was wir schlecht machen. Lasst uns dann das Schlechte abstellen.
Wäre Sankt Pauli eine chemische Reaktion, dann wäre sie sowohl endotherm als auch exotherm. Sankt Pauli benötigt immer Energie und Einflüsse von aussen, sonst wird die Reaktion aufhören stattzufinden, Sankt Pauli ist aber auch in der Lage ganz viel Energie abzugeben, und das ist ein schönes Gefühl.
Immer mit dir, magischer FC!
Danke
An alle, die mir die Probleme, die sie sehen, getwittert haben und einen ganz dicken Schmatzer an den Freund, der mir das Wort “typischer Funktionsjackenträger” gelehrt und erklärt hat.
Danke auch dir, liebe Leserin, lieber Leser, wenn du es bis hier unten geschafft hast. Waren immerhin fast 5000 Wörter und es ist auch ohne Quellenangaben kein Plagiat 😀 (aber auch keine Doktorarbeit)
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