Unser Gastautor Karlsson vom Fach hat sich den Dokumentarfilm „Istanbul United“ zu Gemüte geführt und verrät euch, was euch erwartet, wenn ihr in den nächsten Tagen das 3001 besucht.
„…ich glaube die hassen sich wirklich“
Es ist soweit. Etwas mehr als ein Jahr nach Beginn der Gezi-Park Proteste läuft „Istanbul United“ in den Kinos. Am 18. September 2014 war der deutschlandweite Kinostart des knapp 90 Minuten langen Dokumentarfilms von Olli Waldhauer und Farid Eslam. Seitdem läuft er im ganzen Land in vielen Kinos und in unabhängigen Screenings in Kooperation mit Fans und Fanprojekten (wie z.B. in Dortmund), oft auch mit anschließender Podiumsdiskussion mit den Filmemachern.
Worum geht’s?
Der Dokumentarfilm greift die Beteiligung von Fußballfans der drei großen Istanbuler Vereine Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe in den Gezi-Park Protesten auf. Für jeden Verein wird ein einzelner Fan vorgestellt und begleitet. Als „Repräsentant“ für Beşiktaş tritt Ayhan Güner auf. Er wird als Kopf der Größten Ultrà-Gruppe Çarşı vorgestellt. Bei Galatasaray ist es Kerem Gürbüz, Mitglied von UltrAslan, der größten Fangruppierung bei Galatasaray.
Wer ist dabei?
Cahit Binici wird als Vertreter der Fenerbahçe Fans vorgestellt. Er wird im Film als Mitglied der Ultrà-Gruppe Vamos Bien dargestellt, welche seit 2012 gute Kontakte zu Teilen der Fanszene des FC Sankt Pauli pflegen und 2014 zum 2. Mal Teil des Antira Turniers auf Sankt Pauli waren. Uns liegen Informationen von Vamos Bien vor, das Cahit Binici zwar freundschaftlich mit dem Kern der Gruppe verbunden ist, jedoch kein Teil von eben dieser ist und daher Vamos Bien und Cahit Binici die Absprache trafen, das er nicht im Namen der Gruppe auftritt, sondern als Einzelperson. Mit dieser Hintergrundinformation entsteht hier eine erste Verwirrung. Das unter Freunden so eine Absprache nicht eingehalten wird, ist nicht richtig vorstellbar.
Türkische Fankultur ver(kürzt)längert
Um den Zuschauer*innen einen Überblick über die Rivalitäten und die Intensität des „Ultrà-seins“ in Istanbul zu verschaffen, werden die drei Protagonisten in den ersten 30 Minuten in verschiedenen Spieltags-Situationen begleitet und kommen regelmäßig zu Wort. Es wird lang und breit beschrieben, dass dort ausgeprägte Rivalitäten bestehen, jedoch ohne in die Tiefe zu gehen. Viele Aufnahmen sind dabei auch in den Kurven entstanden. Dies lässt im ersten Moment ein besonderes Vertrauensverhältnis oder Credibility vermuten. Man muss aber wissen, dass die Fans in der Türkei weitaus weniger Berührungsängste mit Kameras und Öffentlichkeit generell haben. Es hat also nicht mit einem besonderen Verhältnis zu den Fans zu tun, dass man in den Kurven Filmen oder sie interviewen darf.
Die Proteste
Die ersten Bilder der Proteste zeigen die Räumung des Gezi-Parks. Politische Aktivist*innen hatten dort ein Camp eingerichtet, um gegen den geplanten Abriss des Parks zu demonstrieren. Baufahrzeuge rückten an und begannen mit den ersten Arbeiten (geplant war dort ein Einkaufszentrum zu bauen, auch dies kommt ihm Film erst sehr spät, geradezu nebensächlich, rüber). Die Polizei räumte den Park unter massiver Anwendung von Pfefferspray, Tränengas, Schlagstöcken und weiterer physischer und psychischer Gewalt, welche sich die nächsten Tage und Wochen fortsetzen sollte. Es folgen viele Bilder der Straßenschlachten mit der Polizei, welche die brutalen Ausmaße der staatlichen Repression wiedergeben. Zu sehen sind von Reizgas verätzte Haut, der Beschuss eines Krankenhauses durch einen Wasserwerfer und Tränengasgranaten verschießende Polizeieinheiten.
Die Kavallerie
Kurz nach der brutalen Räumung des Parks solidarisieren sich die Fußballfans der drei großen Vereine, ohne das es Absprachen unter den rivalisierenden Fanszenen gab. Die Solidarisierung und Teilnahme an den Protesten wird von den im Film auftretenden Demonstrant*innen als ein euphorischer Moment beschrieben. Sinngemäß äußern sich im Film zwei Aktivist*innen: „Es war als ob die Kavallerie kam, sie hatten Erfahrung im Kampf mit der Polizei und kannten keine Furcht“ und weiter „Wenn diese Rivalen es schaffen gemeinsam hierher zu kommen, dann können wir hier wirklich etwas erreichen“.
Istanbul United(?!)
Kerem Gürbüz (Galatasaray) beschreibt die Teilnahme der Fans der drei großen Istanbuler Vereine an den Protesten als nicht abgesprochenes Ereignis welches nicht geplant war, alles spielte sich spontan auf der Straße ab. Begleitet werden diese Beschreibungen durch verschiedene Aufnahmen, in denen eigentlich rivalisierende Fans als Einzelpersonen nebeneinander protestieren, der Polizei Widerstand leisten, Barrikaden errichten und Erfolge des Widerstands feiern. Wenn man sich im letzten Jahr mit den Gezi-Park Protesten beschäftigt hat, fällt sehr schnell auf, dass die Protestszenen zu großen Teilen aus Videosequenzen aus dem Internet zusammengeschnitten sind, leider jedoch ohne jegliche Quellen zu nennen, wie es noch im Crowdfunding-Trailer der Fall war.
Abschluss (ebenfalls) ohne wichtige Hintergründe
Die letzten 25 Minuten des Films zeigen die Protagonisten und Spieltagszenen nach den Protesten. Die Proteste werden anhand von Sprechchören in die Stadien getragen, jedoch wird auch gezeigt, dass die Rivalitäten weiterhin sehr ausgeprägt bestehen.
Das erste Derby zwischen Beşiktaş und Galatasaray nach Gezi bildet den Abschluss des Films. Bei diesem Spiel sind nur Heimfans zugelassen, d.h. nur Beşiktaş Fans, dies wird auch per Einblendung erwähnt. Hier entsteht der Eindruck, dass dies eine Folge von Gezi ist.
Die Fans in der Türkei, besonders diejenigen Gruppen dieoffen an den Protesten beteiligt waren wie Çarşı, sehen sich seit Gezi zwar massiver staatlicher Repression ausgesetzt, jedoch besteht das Verbot von Gästefans bei den großen Derbys schon seit einigen Jahren. Dieses Gästefanverbot ist also keine Folge der Gezi-Proteste, sondern war schon seit Mitte der 2000er Jahre immer wieder ein repressives Mittel gegen Fußballfans und seit 2011 hat beim Derby zwischen Beşiktaş und Galatasaray kein Gästefan das Stadion (abgesehen von denen, die inkognito dort waren) von innen gesehen. Leider fehlen diese Informationen im Film komplett, es wird also ein falsches Bild vermittelt.
Die Abschlussszenen im Film zeigen, dass beim Derby sowohl Fangesänge, als auch später Sprechchöre der Proteste angestimmt werden. Während der Nachspielzeit kommt es zu einem Platzsturm durch Beşiktaş Fans und das Spiel wird abgebrochen. Der Film liefert jedoch leider keinerlei Hintergründe hierzu. Nach recht kurzer Recherche im Internet und Rückfragen bei Türkischen Fans stößt man darauf, dass dieser Platzsturm tatsächlich von einer AKP-nahen (AKP ist die Regierungspartei von Erdoğan Anm.d.Autors) Fangruppe „1453 Kartalları“, initiiert wurde mit dem Ziel, dass speziell Çarşı dieser Platzsturm angehängt werden kann und damit deren Kriminalisierung als Gesamtgruppe seitens des türkischen Staatsapparates gefestigt wird.
Und jetzt?!
Was kann also das Fazit des Films sein? Kurz gesagt beschränkt sich „Istanbul United“ leider darauf, die vorhandenen Rivalitäten sehr oberflächlich zu beschreiben und Bilder des Widerstands der Gezi-Proteste aneinanderzureihen, wobei die besten Sequenzen schon im Trailer zu sehen sind. Den Filmemachern die gute Absicht abzusprechen würde ihnen sicherlich unrecht tun, aber an der Sorgfalt mit der vorgegangen wurde darf stark gezweifelt werden
Schlechte Recherche, oder Kalkül?
Dadurch dass die drei Hauptprotagonisten jeweils einer Ultrà-Gruppe angehören bzw. zugeordnet werden (im Falle von Beşiktaş und Galatasaray den jeweils mit Abstand größten), kann der Eindruck entstehen, dass sich alle großen Fangruppierungen Istanbuls am Widerstand beteiligten. Dies war jedoch nicht der Fall. Diesen Fakt beschreibt der Regisseur Olli Waldhauer zwar im Interview mit Zeit-Online, jedoch wird dies im Film nicht einmal erwähnt. Olli Waldhauer betont auch immer wieder in Interviews, dass „Istanbul United“ ein Film über drei individuelle Fans sei, die an den Protesten teilnahmen. Sicher dass wir über denselben Film sprechen?! Dieser Film transportiert etwas komplett anderes und der Trailer und die restliche PR ebenso.
Auch ein Statement zu den Protesten, verfasst von UltrAslan, vom 9.Juni 2013 findet im Film keinen Platz. UltrAslan erklärt darin, dass sie als Gruppe nicht hinter den Protesten stehen aufgrund der „Politisierung“ der Proteste und der unterschiedlichen politischen Strömungen innerhalb von UltrAslan. Unter anderem diese Erklärung wirft ein anderes Licht auf den angeblich so großen Zusammenhalt der Istanbuler Ultragruppen der drei großen Vereine.
Es wäre ohne große Probleme möglich gewesen diese wichtigen Hintergründe zu recherchieren und ihnen Platz im Film einzuräumen, schon da ein Mitglied von UltrAslan einen exponierten Platz in „Istanbul United“ hat.
Wie gut ist also ein Dokumentarfilm über die Beteiligung von Fußballfans innerhalb der Gezi-Park Proteste, wenn er solche Hintergründe und Fakten auslässt, und der Kontext zwischen den Ereignissen zu kurz kommt? Besonders Zuschauer*innen, welche nicht die entsprechenden Hintergrundinformationen haben, wird so ein falsches Bild vermittelt. Das ist journalistisch fragwürdig und Interpretationen sind so Tür und Tor geöffnet.
Hollywood
Leider wird mehr als ein Drittel der Laufzeit darauf verwendet, zu erklären wie sehr sich die Fans gegenseitig hassen. Diese Rivalitäten kann innerhalb von weitaus kürzerer Zeit vermittelt werden, zugunsten von mehr Zusammenhängen, Differenzierung und Inhalten, in Bezug auf die Teilnahme der Fans an den Protesten und der Repressionen denen sich die Fans sich nach Gezi ausgesetzt sahen. Beachtet man die Komplexität der Fankultur und der Proteste, wird „Istanbul United“ der Gesamtthematik in keiner Weise gerecht. Eine so komplexe Thematik mit Effekthascherei und Action-Blockbuster-Elementen zu unterfüttern um mehr Zuschauer zu ködern, macht noch lange keinen guten Film. Letztendes sieht man hier mal wieder: Wer keinen Plan hat, soll vernünftig recherchieren bevor ein Kinofilm mit Hollywoodreifer PR entsteht, oder einfach die Finger von solchen Themen lassen. „Istanbul United“ ist vermutlich nicht der schlechteste Dokumentarilm über Fußballfans, aber er mischt den Tabellenkeller gründlich auf. Der gute Wille allein zählt eben nicht immer… und in diesem Fall schon gar nicht!
// Beitragsbild lizensiert unter CC BY-NC-SA 2.0 von Flickr-User Workers Solidarity Movement //