Gentrifidingsdabums ist in aller Munde und auch wenn vor wenigen Jahren die meisten Menschen überhaupt nichts mit Thema und Begriff anfangen konnten, hat sich in der Gesellschaft mittlerweile ein durchaus breit gefächertes Bewusstsein für die strategisch-ökonomische Aufwertung von Stadtteilen entwickelt. Nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Anwohner-Initiativen, aber auch durch Fernsehbeiträge, sowie Artikel und Texte in Zeitungen und Blogs. Auch das Hamburger Abendblatt lässt sich nicht lumpen und kritisiert im Rahmen seiner Möglichkeiten die Verdrängungsprozesse in den Metropolen der Welt. Exemplarisch darf dafür im Abendblatt das uns allen wohl bekannte Sankt Pauli herhalten. Da natürlich die Zielgruppe dieses Springerblattes eher der biederdeutsche Mittelstand ist, wird die Kritik am Aufwertungsprozess subtil eingeschoben. Genialer Clue: Das Blatt bietet renomierten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Raum, sich par excellence in ihrer Weltfremde bloß zu stellen. Herausragend getan hat das im zweiten Teil der Reihe „Visionen von St. Pauli“ bereits der werte Herr Bezirksschreiber (das ist der mit den Findlingen unter der Kersten-Miles-Brücke).
Ich habe das Projekt dann zugegebener Maßen etwas aus den Augen verloren, doch heute mit dem Beitrag eines alten Bekannten, unserem Ex-Präsi Cornelius, wieder für mich entdeckt.
Heute steht dort das neue Schmidt-Theater, ein modernes Gebäude, nicht nur ein Theater, sondern ein zeitgemäßes Entertainment-Center. Und ein Theater, was innen noch viel Schmidtiges an sich hat, ganz im Stil des alten und um etliches größer und komfortabler dazu.
Natürlich muss es stets viel neues geben auf dem Kiez, alles wird größer, schöner, schillernder und komfortabler ohne dabei den Charme des Alten zu verlieren. Welch Sinnbild für den Stadtteil.
Vor unserer Haustür ist dort, wo vor zehn Jahren eine öde Sandfläche war, ein lebendiger Spielbudenplatz entstanden, mit Großevents wie dem Grand Prix
Geil! So mit ganz viel hübschen bunten Patrioten-Devotionalien für das herrlich unverkrampfte Verhältnis zur deutschen Nation? Fast wie Public Viewing und das ist ja auch immer total nett und läuft gänzlich ohne irgendwelche rassistischen oder nationalistischen Ausfälle…
Wer hätte gedacht, dass ein – wie wir sagen – ab vom Schuss in der Simon-von-Utrecht-Straße gelegenes Design-Hotel East einen solchen Zuspruch von einer jungen, hippen, wohlhabenden Klientel erfährt? Und eine Bar im obersten Stockwerk des neuen Empire-Riverside-Hotels ständig überfüllt ist?
Ahja, genau die Leute, die dem Stadtteil gefehlt haben. Endlich kommen sie in Heerscharen auf die sündige Meile geströmt um sich am überragenden Kulturprogramm und den wundervollen Gegensätzen zu ergötzen. Wenn es denn 2021 noch Gegensätze gibt.
Wer erinnert sich nicht an das alte St.-Pauli-Stadion? Zehn Jahre später ist davon – Gott sei Dank – baulich nicht mehr viel übrig, nur die Stimmung ist geblieben. Oder sogar noch besser.
Gut, dass die Selbstbeweihräucherung in den Littmannschen Ausführungen nicht zu kurz kommt, nachdem zuvor schon über eine noch viel güldenere Ära des Schmidt Theaters fabuliert wurde, nun der „dezente“ Hinweis auf Cornys Millerntor-Neubau. Gut, dass er (fast) weg ist, der Schandfleck altes Millerntor. Gut, dass wir dank Corny in purpurrote Zeiten reisen und noch viel besser: Gut, dass die Stimmung sogar noch besser wurde. Die kommt ja vom Bauwerk, nicht von den Fans.
Die Beispiele lassen sich beliebig fortführen: Schlagermove, Harley Days, Weihnachtsmarkt – alles vor zehn Jahren undenkbar.
Oh ja, klasse! Gerade bei erstgenannten freut sich jeder Anwohner über die Existenz dieser Veranstaltungen. Wenn wieder wer in Lederweste oder mit neonfarbener Perrücke in den Vorgarten pisst, freut sich der geneigte Sankt Paulianer, in einem so hippen Stadtteil im Wandel zu wohnen.
Vor unserer Haustür wachsen die Tanzenden Türme, die hoffentlich nicht nur äußerlich tanzen, sondern auch mit Leben gefüllt werden. Einem Leben, das sich auf dem ehemaligen Brauereigelände ganz erstaunlich positiv entwickelt hat. Trotz ärgerlichem Büroleerstand.
Ja tatsächlich ein Quell sozialen Zusammenseins. Besonders nach Feierabend. Nicht.
Wer Angst vor diesem Wandel hat, der soll doch bitte in ruhigere Gefilde abwandern, Elmshorn und Pinneberg sind nicht weit.
Natürlich. Wer kein Bock auf Verdrängung hat, soll doch einfach freiwillig gehen, das macht die Verdrängung auch einfacher. Alles wird schön.
edit: Vielleicht ja auch nur eine Einladung, denen mal in die Vorgärten zu pissen und zu kotzen. Ausgleichende Gerechtigkeit, quasi. (Diesen Interpretationsansatz einer Freundin wollte ich euch nicht vorenthalten)
…alle, die versucht haben, den Kiez zu dominieren, mit welcher schrägen Idee auch immer, sind kläglich gescheitert. Und werden scheitern.
Was auch immer in deinem Kopf bezüglich Stadtteil-Gestaltung vor sich geht, das mit dem Scheitern wünsche ich auch dir. Von Herzen!
(Entschuldigt die Polemik)