Die Bereitschaft, Regeln zu brechen ist überall im Lande und quer durch die Gesellschaft zu erkennen. Demonstranten halten sich nicht an Verfügungen von Verwaltungsgerichten, große Unternehmen unterlaufen wie selbstverständlich Steuergesetze, selbst der einst höchste Mann im Staat wusste sich nicht zu benehmen. Mit der Verstärkung von Polizeieinheiten (in Stadien) oder mit einer härteren Bestrafung lässt sich dagegen auf Dauer nicht ankämpfen.
Denn die Verrohung der Sitten sind das Ergebnis einer Entwicklung, die Lehrer schon seit Jahren beobachten, Unterrichtsstörungen, groteske Beleidigungen, ja Bedrohungen. Wer das ändern will, muss bei den Kleinsten anfangen, mit der Anerkennung von Grundwerten in der Familie. Im Stadion ist es zu spät. (FAZ.net)
Es wurde einiges geschrieben über diese Art der Sensationsgier und Betroffenheit, der sich nun allerorts Journalist_innen, Funktionäre, Politiker_innen, etc. hingeben. Eifrig wird von anderen, von Journalist_innen, Fußballfans, auf Blogs und in Foren eine andere Sicht der Dinge, eine Gegenrealität aufgezeigt. Gerne auch ergänzt um den Passus, man fände Gewalt ja auch schlecht, aber im Falle Düsseldorf hätte es kaum welche oder keine gegeben. Vieles dieser Gegendarstellungen ist richtig. Gerne wird in diesem Zusammenhang die „Hysterie“ der Berichterstattung angeprangert, was nebenbei bemerkt aus emanzipatorischer Perspektive auch nicht gerade ein Begriff ist, der frei von männlich-dominanter Projektion ist, handelt es sich dabei doch um eine vermeintliche „Frauenkrankheit“. Was aber, trotz der fragwürdigen Bennennung richtig analyisiert ist, ist, dass es tatsächlich eine gewisse Unsicherheit und Angst seitens einiger Akteure gibt, die sich dieses Themas angenommen haben.
Und wann endlich kommen die Leute mal wieder auf den Teppich und hören auf so einen Stuss in euren Blättern und Internetseiten zu schreiben, weil es höhere Klickzahlen gibt oder verkaufsfördernd sein kann? (MagischerFC.de)
Der Gegendarstellungen, die sich bemühen die Debatte zu objektivieren, sind es mittlerweile genug. Es gilt nun, den Finger in die Wunde zu legen, die ein euphorischer Ausbruch scheinbar aufzureißen imstande ist. Der Profifußball ist ein interessantes gesellschaftliches Feld, dessen Wandel, nicht lediglich aus repressiv-verdrängender Perspektive zu betrachten ist, wie ich vor einigen Wochen bereits anmerkte, als ich mich auf das Feld der Machtanalyse wagte. Es ist dabei nicht nur so, dass delinquente Milieus produziert werden, die der Normalisierung der Massen zuträglich sind. Mit einer Verdrängung proletarischer Schichten durch besser situierte Menschen oder dem Wandel kritisch-studentischer Milieus zu geradezu bourgeoisesker Bildungsbürgerlichkeit (Stichwort Gentrification) eröffnen sich neue gesellschaftliche Felder. Die Zuschauerstruktur, die wir derzeit in deutschen Stadien finden, ist Schaubild eines gesellschaftlichen Prozesses, der immer mehr Orte des sozialen Lebens kommerzialisiert und jene, vom Verwertungsmechanismus ausgeschlossenen, weil sozial und finanziell abgehängten, außen vor lässt.
Dieser Prozess ist aber bei weitem nicht abgeschlossen und noch-heute-proletarische Milieus, wie auch eine neue Unterschicht respektive deren Nachwuchs bevölkern nach wie vor die Stadien. Dort treffen sie zusammen mit neureichen Kids der bürgerlichen Mitte, die ihrerseits ihre Auseinandersetzungen mit der bestehenden Herrschaftsordnung suchen, sei es, weil sie politisierte Jugendliche mit Bildungsprivilegien sind, sei es, weil ihnen die komplette Schullaufbahn vorgekaut wird, dass sie schon mit einem durchschnittlichen Abitur „nichts Anständiges“ mehr werden oder sei es durch anderwaltig hervorgerufene Desillusion oder Erschöpfung. Frust-förderndes Potential gibt es für die jetzt-junge Generation zu genüge.
Die Zusammenkunft dieser unterschiedlich sozialisierten und privilegierten Jugendlichen, gerne unter dem Terminus „Ultras“ per Selbst- oder Fremdbezeichnung gekennzeichnet, ist Kern der Angst der Betroffenheitsjournalist_innen und ihrer geistigen Verwandeten. Selbst radikallinke Positionen können von jenen Menschen geduldet, ja beinahe gutgeheißen werden, solange diese klar von Gewalt distanziert und möglichst in Akademikersprech bildungsfernen Schichten strukturell unzugänglich im Feuilleton positioniert und diskutiert werden. Die Angst derer, die den Untergang des Abendlandes herbeifabulieren und dabei mit einer Geschichtsverdrossenheit alle Umstände menschlicher Vernunft ignorieren, ist, dass sich nicht distanziert wird. All die Forderungen klarer Distanzierungen, all die Forderungen nach Denunziation sind Ausdruck eines von oben oktruierten Klassenkampfes, dessen klare Trennung zwischen einzelnen sozialen Schichten im Kapitalismus zu verschwimmen drohen.
Es heißt, ein Fußballstadion sei ein Spiegel der Gesellschaft. Das kann stimmen. Aber, obwohl durch Logen und teure Sitzplätze eine Segregation unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten stattfindet, kommen in den Stehplatzkurven noch immer Menschen aller sozialer Herkünfte zusammen. In der Kurve gibt es diese jedoch nicht, im übertragenen Sinne stimmt hier das Bild des Bankers neben dem Punker. In der Kurve stehen Studierende neben Handwerker_innen und Arbeitslosen. Daher sind die vielfältigen Ereignisse in Fußballstadien einerseits Ausdruck eines gesellschaftlichen Zustandes, der große Unsicherheit birgt. Andererseits sind sie auch Ausdruck eines Potentials, dass eigentlich schon in den Stadien unerwünscht ist, „auf der Straße“ aber noch viel „schlimmer“ wäre.
So lange sich aber die Protagonisten in politischen Differenzen (zurecht) aufreiben, so lange beispielsweise ein „Prekariats-Sexismus“ dazu genügt, dass sich Fans untereinander abgrenzen, so lange sich immer wieder darauf berufen wird, man habe ja ein Gewaltproblem, aber mit Populismus sei dem Problem nicht beizukommen, so lange man sich also Auseinandersetzungen diktieren lässt, funktionieren die Fingerzeige und es braucht keine Angst. Die Delinquenten dienen gewohnt der Macht des Normativen.
Bei Ereignissen, wie dem in Düsseldorf, wo die Trennlinie zwischen vermeintlichen „Chaoten“ und „friedlichen Fans“ verschwimmt, droht sich die Macht des Normativen ins Gegenteil zu verkehren. Von der Warte ist die Betroffenheit zu begreifen. Wir tun also gut daran uns eben nicht zu distanzieren, uns nicht Probleme diktieren zu lassen, sondern uns zu solidarisieren. Dann haben nicht mehr wir ein Problem, sondern „die“ und dann können wir eventuell auch die Debatte um den „Kampf gegen den modernen Fußball“ in eine um den „Kampf gegen die moderne Gesellschaft“* umformulieren. Davon sind wir aber noch weit entfernt.
Ebenfalls lesenswert: In diese Kerbe schlug schon vor der Düsseldorf-Kiste auch „Metalust und Subdiskurse“
*Im Sinne des kommerzialisierten öffentlichen Raumes und der damit verbundenen gesellschaftlichen Segregation